Die Morde von Mechterstädt und ihre Folgen
Neue Studie fördert bislang Unbekanntes über die Morde in den Märztagen des Jahres 1920 zutage Diskussionsveranstaltung mit den Autoren Mi 25.11. 19.00 im Hörsaalgebäude der Philipps-Universität Marburg
Am Morgen des 25. März 1920 wurden bei Mechterstädt in Thüringen 15 Arbeiter aus dem nahegelegenen Thal, ohne dass sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht hätten, von 14 Marburger Verbindungsstudenten des Marburger Studentenkorps (StuKoMa) "auf der Flucht" erschossen. Seitdem gilt "Mechterstädt" als Beispiel eines barbarischen innenpolitischen Kriegs, der von rechts gegen die "Novemberverbrecher" und die Weimarer Republik geführt wurde.
Seine Fortsetzung fand dieser Krieg in den Freisprüchen der Studenten durch eine vordemokratische Gesinnungs- bzw. Klassenjustiz. Keines der Gerichtsverfahren genügte auch nur in Ansätzen rechtsstaatlichen Ansprüchen. Vielmehr wurde Beweismaterial unterschlagen, wurden Zeugen "präpariert", wurde hinter den Kulissen massive Rechtsbeugung begangen. Verteidiger, Ankläger und der Führer des Studentenkorps, Bogislav von Selchow, kannten sich privat, verkehrten vielfach in den gleichen rechtsradikalen Kreisen und wirkten zugunsten der angeklagten Studenten zusammen. Die liberale Frankfurter Zeitung formulierte schon damals prägnant: "Es muss ein Vergnügen für jeden Angeklagten sein, der einen solchen Anklagevertreter vor sich hat, der einen Verteidiger vollständig überflüssig macht."
Ihre folgenschwere Fortsetzung fanden die Ereignisse des Frühjahrs 1920 aber auch in der zunehmenden Radikalisierung des Konservatismus im völkisch-nationalistischen Netzwerk, in dem die Mitglieder des StuKoMa bzw. der Marburger Korporationen einen wichtigen Knotenpunkt antidemokratischer Aktivitäten bildeten mit Kenntnis und sogar Billigung der Universitätsleitung. Denn das StuKoMa blieb, entgegen bisheriger Kenntnisse, trotz behördlicher Auflösungsverfügung noch mehrere Jahre bestehen. Im präfaschistischen Untergrund Marburgs agierend, versteckte man Waffen, trat verbotenen Wehrverbänden bei, nahm an militärischen Übungen der sog. "Schwarzen Reichswehr" teil und huldigte 1924 beim Marburger "Deutschen Tag" der Hitler-Ludendorffschen NSDAP und ihren Gefolgsleuten.
Die zentralen Akteure des Marburger Studentenkorps stehen gleichsam stellvertretend für diese Entwicklungen:
Freiherr Bogislav von Selchow, der Kommandant des StuKoMa, war seit 1918 mit der rechtsextremen Szene eng verwoben, leitete zwischen 1920 und Ende 1922 den Westkreis der illegalen "Organisation Escherich", in die das fortbestehende Studentenkorps eingegliedert wurde, pflegte Kontakte zur Mord-und-Terror-Organisation "Consul", der Nachfolgeorganisation der "Marinebrigade Ehrhardt", beteiligte sich 1922/23 an Plänen für einen Rechtsputsch und galt als leidenschaftlicher Antisemit und Nationalsozialist, der im Anschluss an seine Marburger Studentenzeit seit Mitte der zwanziger Jahre in Berlin als völkischer Schriftsteller wirkte.
Sein Adjutant, Otmar Freiherr von Verschuer, wurde als "Rassehygieniker" und Doktorvater Josef Mengeles Vordenker, Handlanger und Profiteur der Tätigkeiten des KZ-Lagerarztes, der ihm bereitwillig "Menschenmaterial" für seine Zwillingsforschungen zur Verfügung stellte. Als Mitglied des Vereins Deutscher Studenten war er zugleich seit 1919 Propagandist und Multiplikator eines rassistisch begründeten Antisemitismus.
Der Wingolfit und Chronist des "Thüringen-Feldzuges", Karl Schaumlöffel, veröffentlichte neben seinem "Kriegstagebuch" in Marburg antisemitische Hetztiraden und schloss sich nach Abschluss seines Studiums dem "Jungdeutschen Orden" um Artur Mahraun an, bevor er 1923 zusammen mit Roland Freisler, dem späteren Vorsitzenden des Volksgerichtshofs, in Kassel die Keimzelle der dortigen NSPAP gründete und sich fortan als politischer Funktionär des Nationalsozialismus betätigte.
Schließlich wurde aus dem 1920 noch weitgehend unbekannten Walter Luetgebrune, der die Angeklagten des StuKoMa in mehreren Prozessen verteidigte, im Verlauf der Weimarer Republik einer der prominentesten Rechtsanwälte nationalistisch-faschistischer Terroristen, der Zeichen der engen Verwobenheit mit der Weltanschauung der von ihm Verteidigten schließlich 1932/1933 zum obersten Rechtsberater von SA und SS aufstieg.
"Mechterstädt" steht aber auch für ein anderes, allerdings minoritäres und vielfach in Vergessenheit geratenes Deutschland. Demokraten, Republikaner, Sozialisten, Kommunisten und kritische Intellektuelle machten die Ereignisse des Frühjahrs 1920 publik, kritisierten die offenkundige Klassenjustiz, setzten sich auch finanziell für die Hinterbliebenen der Opfer ein und warnten vor den mittel- bis langfristigen gesellschaftspolitischen Folgen. Zu nennen sind hier u.a. Ernst Lemmer und der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, die schon als Studenten in Marburg über die korporierten Exzesse berichteten; Wilhelm Bock, Theodor Liebknecht sowie Theodor Neubauer, alle aus den Reihen der Parteien der Arbeiterbewegung (SPD, USPD bzw. KPD), die sich der Familien der Opfer annahmen; aber auch ein Schriftsteller wie Kurt Tucholsky, der mehrere Gedichte über die Verbrechen von Mechterstädt schrieb, oder ein Karikaturist wie George Grosz, der die "Marburger Mörder" und ihre Sympathisanten in einer berühmt gewordenen Zeichnung verewigte. Einer derjenigen, die sich 1920 an der von der Gothaer Sozialdemokratie organisierten Spendensammlung beteiligten, war übrigens ein Frankfurter Schüler namens Abendroth. Er sollte drei Jahrzehnte später als Professor der Politikwissenschaft in Marburg wirken.