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Thema der Woche | 11. September 2014

Atlantis im Edersee

Rita Wilhelmi führt zu Dörfern aus der Tiefe – Foto: Gesa Coordes

Das alte Fachwerkhaus von Rita Wilhelmi stand einst auf dem Grund des Edersees. Vor 100 Jahren, als die Staumauer errichtet wurde, nummerierten die damaligen Bewohner jeden Balken des Gehöfts und bauten es am Ufer des neu entstandenen Sees wieder auf. Heute ist Rita Wilhelmi Gästeführerin für Edersee-Atlantis. Und jeden Herbst, wenn die Überreste der versunkenen Dörfer aus den Fluten wieder auftauchen, wandert sie mit Trupps von Touristen und Schulklassen zu den Spuren der Vergangenheit. "Auf mich wirkt dieses große Tal wie ein Urstromtal, ein Stück Vergangenheit, das es sonst nicht mehr gäbe", sagt die 49-Jährige.

Rita Wilhelmi ist mit der Geschichte der versunkenen Dörfer ganz selbstverständlich aufgewachsen: 1914 wurde das idyllische Tal geflutet. 900 Menschen mussten Haus und Hof verlassen – die Bewohner der Dörfer Asel, Bringhausen und Berich sowie mehrerer Gehöfte. Sie wichen den wirtschaftlichen Interessen der Weseranrainer. Gebaut wurde die Talsperre nämlich nicht für die Touristen. Der See sollte in erster Linie dem Hochwasserschutz und als Wasserreservoir für die Weser dienen.

Da nützten die Proteste der Bürger von Alt-Asel am oberen Edersee, wo einst das Fachwerkhaus der Wilhelmis stand, wenig. Der größte Teil der Dörfler zog ins heutige Asel auf den knapp 300 Meter hoch gelegenen Berg an der Nordseite des Sees, einige wenige nach Asel-Süd, wo neben dem Campingplatz bis heute nur 16 Menschen leben. Hier ist Rita Wilhelmi aufgewachsen. Jahrelang stiegen die Kinder jeden Morgen in das kleine Fährboot, das sie zur Schule auf der anderen Seeseite brachte. Dafür kamen die Waldarbeiter aus der Gegenrichtung, um im heutigen Nationalpark Holz zu schlagen. Als kleine Entschädigung für die verlorene Heimat und die fruchtbaren Böden durften sie die Fähre umsonst benutzen. Bis heute fahren die Aseler Bürger gratis, wenngleich sie das Fährboot inzwischen fast nur noch für Ausflüge brauchen. Stattdessen setzen Radler und Wanderer über – ein Gong lockt den Fährmann nach Bedarf.

Im Herbst, wenn der See wegen des sinkenden Pegelstandes im oberen Teil zu einem schmalen Flüsschen schrumpft, gehen die Menschen zu Fuß ans andere Ufer. Dann taucht die vor 100 Jahren untergegangene Brücke über die Eder wieder auf. Die 60 Meter lange, vierbogige Ederbrücke steht unter Denkmalschutz und ist das am besten erhaltene Bauwerk des alten Tals. Trotzdem rät Rita Wilhelmi ihren Gästen zu Gummistiefeln, wenn sie über die von Rissen durchzogene Erde stapft. An manchen Ecken sinken die Kinder knietief im Schlamm ein.

"Ich lasse die Besucher immer raten, wie hoch das Wasser normalerweise über ihnen steht", erzählt Wilhelmi. Es sind zehn Meter. Auf den Ruinen-Feldern zeigt sie die Grundmauern der alten Gehöfte, der Schule, der Kirche und die alten Baumstümpfe. Das Überschwemmungsgebiet ist aber auch Lebensraum für seltene Pflanzen – etwa für den Schlammling, die kleinste Blühpflanze Deutschlands, den weiß blühenden Uferhirschsprung und den gelben Wiesenalant. Je länger die Trockenphase dauert, um so grüner wird der Grund des Sees, an dessen Rand Seggenried, Blut- und Gilbweiderich wachsen.

Im Spätherbst tauchen meist auch die Ruinen der tiefer gelegenen Dorfstellen von Bringhausen und Berich auf: Grundmauern des ehemals reichen Nonnenklosters der Benediktiner, einst einer der schönsten Bauten gotischen Stils im Waldecker Land. Teile der Klosterruine ragten noch jahrelang aus dem See, bis sie weitgehend verschwanden. Zu sehen sind gepflasterte Wege, Mauern, Gräberfelder, Futtertröge, Treppenstufen, Kellergewölbe und Brückenpfeiler, Überreste einer kleinen Burganlage, einer gräflichen Meierei und einer Mühle.

Die Dorfstelle Berich ist auch die Hauptattraktion für die Taucher, die dort mit Kompasskursen nach der alten Klostermauer suchen: "Das hat seinen ganz besonderen Reiz", sagt der Leiter des örtlichen Tauchshops, Jens Rohland. Selbst aus dem Ausland reisten Taucher an, um Edersee-Atlantis zu entdecken.

Das Sperrmauermodell an der Bericher Hütte – einst die bedeutendste Eisenhütte des Fürstentums Waldeck – dürfen sie allerdings nicht ansteuern, weil es außerhalb der Tauchzone liegt. Nur alle paar Jahre taucht es aus dem See auf. An dem gut erhaltenen Modell im Maßstab 1:40 haben die Konstrukteure der Staumauer einst Vorrichtungen zur Abführung des Wassers an der Sperrmauer ausprobiert. Das Wasser lieferte der Mühlengraben.

Doch die faszinierenden Ruinen bröckeln. Weil ihnen der endgültige Verfall droht, hat sich ein 2012 gegründeter Förderverein den Erhalt der Dorfstelle Berich auf die Fahnen geschrieben. Inzwischen haben Jugendliche vom Lehrbauhof damit begonnen, Grundmauern und Pflaster von Schlick befreien und zu restaurieren. 100 Jahre alte Mistgabeln und Hacken haben sie dabei entdeckt.

Zum Jubiläum des Edersees sind die alten Ruinen ein wichtiges Thema: Eine ganze Wanderwoche auf den Spuren der untergegangenen Dörfer ist vom 24. bis zum 28. September geplant. Es folgen Touren auf den Spuren der versunkenen Wiesen und Felder. Und in Herbstferien lädt Rita Wilhelmi zum Wattwandern durch den leeren See. Doppelsinniges Motto: "Ich will den Grund kennen."

Zum 100-jährigen Jubiläum
... erwartet die Besucher ein Veranstaltungsmarathon mit Festen, Ausstellungen, Konzerten, Theater und Projekten. Weitere Informationen: www.100jahre-edersee.de

Gesa Coordes

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