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Express Online: Thema der Woche
Express Online: Thema der Woche | 4. Februar 2010

Kapital nagt am Denkmal

Am 11. Februar tagt der Akteneinsichtsausschuss weil das ältestes Haus des Marburger Nordviertels den Bauplänen eines Milliardärs weichen muss

Für Georg Fülberth von der Marburger Linken ist der Abriss des ältesten Hauses im Nordviertel der Universitätsstadt ein Fall von vorauseilendem Gehorsam: "In Marburg regiert das Kapital", sagt der Stadtverordnete. Das Haus ist nämlich den Bauplänen von Marburgs einzigem Milliardär zum Opfer gefallen.

Doch der Reihe nach: Reinfried Pohl, Gründer der Deutschen Vermögensberatung (DVAG), wichtiger Gewerbesteuerzahler und Marburgs größter Mäzen, plant ein Projekt, mit dem das Gewerbeviertel in der Nähe des Bahnhofs einen völlig neuen Charakter erhalten wird. Der 81-jährige Unternehmer investiert 45 Millionen Euro, um zwei große Glas-Stahl-Bauten zu errichten – einen viergeschossigen, 57 Meter langen Bau mit abrundeten Ecken als neuen Firmensitz der Holding und ein dreieckiges Informations- und Congresszentrum. Dort sollen sich in Zukunft jedes Jahr bis zu 50 000 Vermögensberater weiterbilden. Zu dem Zentrum gehört ein Firmenmuseum, ein Ballsaal für 400 Personen, ein Museumscafé und eine Glaskuppel mit einer Spannweite von 27 Metern.

Die meisten Häuser auf dem Areal zwischen dem ebenfalls zur DVAG gehörenden Fünf-Sterne-Hotel Vila Vita und der Bahnhofstraße sind bereits der Abrissbirne zum Opfer gefallen. Inzwischen nagen die Bauarbeiter auch an der Rosenstraße 9. Das dreistöckige Haus aus rotem und beigem Sandstein ist bereits größtenteils abgetragen.

Dabei stand das Gebäude aus der Gründerzeit bis zum Sommer unter Denkmalschutz. Es wurde 1876 von Bauunternehmer Johann Georg Heres in klassizistischer Form und reichem Terrakotta-Dekor als Visitenkarte des Erbauers errichtet. Der Türeingang erinnert an einen antiken Tempel. Säulen und Ornamente schmücken die Fassade. Der spätere Generaldirektor der Staatlichen Museen von Berlin, Ludwig Justi, wuchs hier auf.

Ursprünglich hatte der Bauherr der Stadt zugesagt, das Wohngebäude in den Neubau zu integrieren. Doch dann kam der Statiker der DVAG zu dem Schluss, dass das Haus baufälliger als ursprünglich angenommen sei. Zum Congresszentrum gehört nämlich eine große Tiefgarage, die bis unter das alte Haus reicht. Das Gebäude könnte in die Baugrube stürzen, erläutert der Marburger Bürgermeister Franz Kahle (Grüne). Dass die Statik wirklich so wackelig ist, bezweifelt Claus Schreiner von der Initiatitivgruppe Marburger Stadtbild. Und auch Fülberth ist sich sicher: "Das ist technisch zu machen. Das ist nur teurer."

Doch die Stadt wog die Interessen ab. Und kam zu dem Ergebnis, dass die Investitionen im Nordviertel so wichtig sind, dass der Sandsteinbau weichen müsse. "Das ist eine große stadtgestalterische Chance", erklärt Bürgermeister Kahle. Das Gebäude verschwand von der Denkmalliste. Und selbst Landesdenkmalpfleger Udo Baumann stimmte zu, weil das Bauvolumen wichtiger sei als das alte Haus. Der Abrissantrag wurde genehmigt.

Nun werden nur noch einige Fassadenteile – dazu gehören die Säulen und die Terrakotta-Ornamente aus der Frontseite – in das Congresszentrum integriert. Dazu müssen Steinmetze das Haus langsam Stück für Stück abtragen. Dies sei sehr aufwändig, betont der Bürgermeister: "Damit bleibt das Gebäude als Zitat erhalten."

Das ist nur Fassadentourismus", sagt dagegen Claus Schreiner von der Initiativgruppe Marburger Stadtbild: "Manchen Bauherren wird in Marburg alles nachgeschmissen", schimpft er.

Auch Fülberth ist sich sicher: "Man wollte Pohl einen Gefallen tun." Dass der Unternehmer dazu überhaupt Druck ausüben musste, glaubt er allerdings nicht: "Das gehorsame Gescherr ist zuweilen schlimmer als der Herr", meint Fülberth. Schließlich ist Pohl der wichtigste Mäzen der Stadt: Gerade hat er eine Stiftung eingerichtet, die Krebskranken helfen will. Er finanziert eine Dozentenstelle, eine Professur, eine Forschungsstelle und ein Zentrum für medizinische Lehre. Zudem sorgt für Gewerbesteuern von acht bis zehn Millionen Euro pro Jahr.

Debattiert wird dies nun alles in einem auf Antrag der Linken eingerichteten Akteneinsichtsausschuss. Am 11. Februar wird er erstmals tagen. Am Abriss des alten Hauses ändert das nichts mehr.

Gesa Coordes


Express Online: Thema der Woche | 4. Februar 2010

Abenteuer Deutschland

Sie kommen aus Estland, Indien, Iran, Kamerun, Brasilien oder der Türkei: Ausstellung "Einblicke: internationale Studierende im Portrait" der Fachhochschule

Hüseyin Kocabeys "größtes Abenteuer" hat vor vier Jahren begonnen: "Ich war 19 Jahre alt als ich zum Studium nach Deutschland kam. Ich bin jetzt 23 Jahre alt, Software Developer und Informatik-Student an der Fachhochschule Gießen-Friedberg." Kocabey kam aus der Türkei um an der FH Gießen-Friedberg zu studieren, so wie zahlreiche andere internationale Studierende jedes Semester neu in Gießen ankommen, um hier ein Studium zu beginnen oder vorzubereiten. Ihnen widmet sich die Plakatausstellung "Einblicke: internationale Studierende im Portrait", die im Rahmen der Reihe "FH Kultur" stattfindet. Sie stellt einige internationale Studierende vor. Sie kommen unter anderem aus Estland, aus Indien, dem Iran, aus Kamerun, Brasilien, der Türkei. "Ich erinnere mich noch an den Tag meiner Ankunft in Deutschland. Ich war ängstlich, denn es gab keine chinesischen Gesichter auf dem Frankfurter Flughafen. Die meisten Menschen um mich herum sahen so anders aus als ich. Ich war verloren in einer fremden Stadt.", sagt Lina Pan aus China.

Welchen Weg sind diese Studierenden gegangen, wie erleben sie das hiesige Studium und Leben? Und wie finden sie ihren Platz in der Hochschulgemeinschaft? Daniel Marcel Naoussi aus Kamerun berichtet: "Sich anzupassen war für mich nicht einfach, weil das Leben in Deutschland ganz anders ist als in Kamerun. Ich habe jedoch gelernt dass man vor allem viel Mut haben sollte, und keine Angst sich zu äußern, auch wenn man vielleicht noch nicht so gut Deutsch spricht (denn man kann nur durch Fehler etwas lernen). So habe ich dann eine nette deutsche Familie getroffen und auch eine Tandem-Partnerin gefunden, und wir haben viel miteinander unternommen."

Payam Shirvanchi, Medizintechnik-Student aus dem Iran, war über die "grünen Landschaften und kleinen, hübsche Fachwerkhäuser" in Deutschland verblüfft und berichtet: "Als ich mit dem Studienkolleg begonnen habe, habe ich dort viele Leute aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen kennen gelernt, was für mich sehr interessant war, da es im Iran viel weniger ausländische Menschen gibt. Deutschland hingegen ist eher ein multikulturell geprägtes Land und das schätze ich sehr."

Wie multikulturell es an der Fachhochschule Gießen-Friedberg zu geht, zeigt die FH-Statistik zum Wintersemester 2009/10. So kommt die größte nationale Gruppe der ausländischen FH-Studierenden aus Kamerun. Von den insgesamt 824 in Gießen und Friedberg immatrikulierten Studentinnen und Studenten, die ihre Hochschulzugangsberechtigung nicht in Deutschland erworben haben, stammen 218 aus dem westafrikanischen Staat.

In Marokko haben 140 junge Leute den Schulabschluss erworben, der sie zum Studium an der Fachhochschule qualifiziert. In der Liste der Herkunftsländer folgen die Türkei mit 52 und Tunesien mit 42. Aus dem EU-Ausland stellt Bulgarien mit 28 die zurzeit stärkste Gruppe.

Zählt man die ausländischen Studierenden nach Kontinenten, so entfallen hinter Europa auf Afrika mit 458 die meisten Immatrikulierten. Rund 75 Prozent davon sind männlich. Stärker als mancher Nachbarstaat Deutschlands ist der asiatische Kontinent mit 149 Immatrikulierten in der Studierendenschaft vertreten: Aus dem Iran kommen 28, aus der Volksrepublik China und dem Libanon jeweils 16, aus Malaysia 12 und aus Nepal 10 Studentinnen und Studenten. Mit insgesamt 21 stammt eine vergleichsweise kleine Zahl aus Amerika.

Differenziert man die Gruppe der ausländischen Studierenden nach ihrer Fächerwahl, so zieht der Gießener Fachbereich Krankenhaus- und Medizintechnik, Umwelt- und Biotechnologie mit insgesamt 175 die meisten ausländischen Studierenden an. Es folgen die Fachbereiche Elektro- und Informationstechnik (Gießen) mit 108 sowie Informationstechnik – Elektrotechnik – Mechatronik (Friedberg) mit 104 Immatrikulierten aus anderen Ländern.

Die Gesamtstudierendenzahl der FH Gießen-Friedberg liegt im laufenden Wintersemester bei zirka 11.500. Damit beträgt der Anteil der Bildungsausländer rund 7 Prozent.

Die Ausstellung "Einblicke: internationale Studierende im Portrait" im Hugo von Rittgen-Haus der FH Gießen-Friedberg, Südanlage 6, ist bis 15. März wochentags 8-17 Uhr geöffnet.

Georg Kronenberg

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