Fast drei Wochen nach der Abstimmung zu Move 35 sind längst noch nicht alle Wogen geglättet – auch oder gerade in der Lokalpolitik bleibt die Stimmung angespannt.

Nach dem Bürgerentscheid bleibt der Marburger Autoverkehr „vermintes Gelände“, wie Renate Bastian von den Marburger Linken formuliert. Ihr Fraktionskollege Jan Schalauske hat deshalb einen neutralen Gesprächsort für die geplante Beratung der Fraktionen vorgeschlagen: die katholische Liebfrauengemeinde an der Großseelheimer Straße.
Im dortigen Pfarrsaal haben die Bürger nämlich fast exakt so gestimmt, wie es dem Gesamtergebnis des Bürgerentscheids entspricht: 48,8 Prozent votierten für eine Halbierung des Autoverkehrs, 51,2 Prozent dagegen (in ganz Marburg waren es 48,2 zu 51,8 Prozent). Jan Schalauske meint diesen Vorschlag zwar symbolisch, aber auch ganz ernst: „Wenn man die Spaltung überwinden will, muss man dahin gehen, wo sie sichtbar wird“, erläutert er: „Der Ort sollte dem Bürgerentscheid entsprechen.“ Tatsächlich liegt die Liebfrauengemeinde an der viel befahrenen Großseelheimer Straße, auf die man kein Kind auf einem Fahrrad schicken möchte.

Freilich hat Schalauske die katholische Gemeinde noch nicht gefragt. Dazu äußert sich der dortige Pfarrer Christoph Näder auf Anfrage des Marburger Express auch eher vorsichtig: „Wir haben jetzt viele Feierlichkeiten. Diese Woche geht es gar nicht mehr“, informiert er. Zudem müsse er die Frage zunächst mit dem Pfarrgemeinderat besprechen. Und zu Move 35, da bittet er um Verständnis, möchte er sich gar nicht äußern.
In der Kommunalpolitik ist die Stimmung nach dem Bürgerentscheid nämlich immer noch so aufgeladen, dass schon die Terminfindung zum Politikum wird. Oberbürgermeister Thomas Spies hatte nach dem Wahlausgang angekündigt, noch vor den Sommerferien alle Fraktionen einladen zu wollen. An dem ersten vorgeschlagenen Termin hatten die Christdemokraten keine Zeit. Aber noch bevor ein neuer gemeinsamer Termin gefunden war, lud die CDU unter der Überschrift „CDU/FDP/BfM-Fraktion übernimmt Verantwortung“ öffentlich zu einem Verkehrsgespräch ein, das ausgerechnet im Bürgerhaus Dilschhausen stattfinden soll. Dort hatten rund 88 Prozent der Menschen gegen die Verkehrswende gestimmt. Zudem wollte sie das Gespräch am liebsten ohne Oberbürgermeister und Fachleute aus der Verwaltung führen, wenngleich CDU-Fraktionsvorsitzender Jens Seipp auf Anfrage präzisiert: „Der OB war nicht eingeladen, aber auch nicht ausgeladen.“ In dieser Phase Mitarbeiter aus der Verwaltung dabei zu haben, darin sehe er jedoch „keinen Sinn“, so Seipp. Seine Fraktion sehe sich in der Pflicht, den weiteren Prozess maßgeblich zu begleiten und konkrete Vorschläge zu einem „tragbaren und zukunftsfähigen Verkehrskonzept“ zu unterbreiten. SPD und Grüne sagten ab. Die Linken wollen kommen: „Ich würde auch mit dem Lastenrad nach Dilschhausen fahren“, sagte Schalauske in Anlehnung an den umstrittenen Wahlslogan der CDU.

Dass Fachleute aus der Verwaltung auch gehört werden, hält Oberbürgermeister Spies für wichtig, damit sie auch darüber informieren können, welche Auswirkungen welche Entscheidungen haben können. Er hat nun für den 9. Juli – nach dem Haupt- und Finanzausschuss – ins Rathaus eingeladen, endgültig abgestimmt ist der Termin aber noch nicht. Das ist wohl auch der Grund, warum Spies dazu nur mitteilt: „Wir sind dazu alle miteinander im Gespräch.“
Unterdessen ärgert sich der SPD-Fraktionsvorsitzende Steffen Rink, dass sich ausgerechnet das Bündnis aus CDU, FDP und „Bürgern für Marburg“ nun als Fraktion des konstruktiven Dialogs und der Einigung präsentiere: „Die emotionalisierte Spalterkampagne in der Stadt ging von der Opposition aus“, so Rink.
Auch inhaltlich dürften die Gespräche um den Marburger Autoverkehr schwierig werden. Die CDU möchte ein neues Planungsbüro beauftragen, das ein neues Mobilitätskonzept entwickeln soll. Der Name „Move 35“ soll dabei verschwinden. Dagegen halten es Grüne und SPD nicht für sinnvoll, ein neues Planungsbüro zu engagieren. Den Prozess neu zu starten, würde Jahre dauern, argumentieren sie.
Grünen-Sprecher Friedhelm Nonne empfiehlt, „pragmatisch erste konkrete Einzelmaßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssituation in Marburg im Parlament festzulegen und anzupacken“. Langwierige Diskussionen über einen neuen Zielwert für den Pkw-Anteil am Verkehrsaufkommen – das hatte Oberbürgermeister Spies vorgeschlagen – und „erst recht“ die Erarbeitung eines vollkommen neuen Konzepts seien „nicht hilfreich“.
Thomas Spies wiederholt seine Idee auch nicht, sondern möchte Punkte aus dem bisherigen Konzept anpacken, die schnell zu einer spürbaren Verbesserung der Mobilität führen. Wichtig sei, dass die Verwaltung eine klare Vorgabe bekommt, mit der sie arbeiten kann, sagt er: „Wir müssen uns auf einen guten Kompromiss verständigen, der dafür sorgt, dass die Stadtgesellschaft nicht weiter gespalten wird, sondern zusammenfindet.“

Gesa Coordes

Bild mit freundlicher Genehmigung von Gesa Coordes