In der Küche der Marburger Jugendherberge ragen Drähte, Schläuche und Metall aus der Decke. Da, wo der Betonsockel steht, wurde noch bis Januar gekocht, geschnippelt und gebraten. In den Bädern sind Waschbecken abgeschlagen und Duschen abmontiert. Und am Tagungsraum sind sogar schon Teile der Wände eingerissen. Die Jugendherberge Marburg ist nicht nur leer, sie völlig unbenutzbar. Schließlich wäre sie unter normalen Umständen jetzt bereits abgerissen worden. Herbergsvater Peter Schmidt hat der letzten Gästegruppe deshalb auch erlaubt, die Wände mit Graffiti zu besprühen. Seitdem sind Zimmer und Fassaden mit Bildern und Sprüchen übersät.
Der 49-Jährige leitet die Jugendherberge seit 20 Jahren. Er hatte sich sehr auf den Neubau gefreut, mit dem das Haus zugleich die erste inklusive Herberge Hessens werden sollte. Jetzt sagt er: "Wäre dieses weltweite Desaster sechs Wochen früher passiert, hätten wir das Haus nicht leer geräumt, sondern gehörten jetzt zu den Jugendherbergen, die nun wieder starten." Auch sechs Wochen später wäre besser für Marburg gewesen. Dann hätten die Bauverträge für den Neubau nicht mehr gestoppt werden können. Jetzt fließen die mehr als fünf Millionen Euro, die eigentlich in die neue Marburger Jugendherberge hätten investiert werden sollen, in das Überleben der anderen 29 Jugendherbergen Hessens. "Pech im Unglück", nennt Schmidt das.
Dabei gehört die seit 100 Jahren bestehende Jugendherberge Marburgs zu den erfolgreichen Unterkünften ihrer Art. Das direkt an der Lahn gelegene 160-Betten-Haus zählt jedes Jahr rund 30.000 Übernachtungen und 14.000 Gäste. Jedes Jahr wird ein ordentliches Plus erwirtschaftet, mit dem andere Jugendherbergen in Hessen unterstützt wurden.
Normalerweise hätte Peter Schmidt im Juni kein Bett mehr frei. Jede Woche begrüßte er vier Reisebusse mit 130 Schulkindern. Dazu kamen Sportvereine, Musikgruppen und Chöre, die sich gern in der Herberge treffen, sowie Radfahrer vom direkt angrenzenden Lahnradweg und Studierende auf der Suche nach einer Unterkunft. Der Herbergsvater säße an seinem Lieblingsplatz an der Rezeption, würde Rechnungen mit Lehrern durchsprechen, den Weg zum Schloss erklären, Eis am Stil verkaufen und Kaffee für zu früh angereiste Gäste servieren, während das Telefon fast ununterbrochen klingelte. Schmidt liebt den Trubel und die Idee der Jugendherbergen: "Das ist nicht einfach nur ein Job. Das ist Lebensinhalt und Begeisterung", sagt 49-Jährige. Und selbst während des Neubaus war geplant, dass er neben der Baubegleitung in Marburg in anderen hessischen Jugendherbergen einspringt.
Stattdessen gehört er nun zum Krisenteam des hessischen Jugendherbergswerks. Die günstigen Quartiere sind von der Pandemie nämlich noch heftiger getroffen als konventionelle Hotels und Pensionen. Zum einen lassen sich Abstandsregeln in Sechs-Bett-Zimmern nur schwer umsetzen. Zum anderen machen die Jugendherbergen ihren größten Umsatz nicht mit den Individualreisenden, sondern mit Schulklassen (37 Prozent), für die es viele pädagogische Pauschalprogramme gibt, sowie mit Tagungen und Seminaren für Sportvereine, Chöre, Musik-, FSJ- und studentische Gruppen (30 Prozent). Die Schulen haben ihre Klassenfahrten bis ins nächste Jahr hinein gecancelt. Trainingslager und Chorwochenenden sind auf absehbare Zeit nicht möglich. Zudem sind die Jugendherbergen gemeinnützig. Das bedeutet, dass sie keine Rücklagen bilden dürfen, die nicht zweckgebunden sind.
Die Folge: Trotz einer Nothilfe von einer Million Euro des Landes Hessen muss der hessische Jugendherbergsverband spätestens im September Insolvenz anmelden, wenn es keine weitere Unterstützung gibt, sagt Sprecher Knut Stolle.
Dabei hängen etwa an der Marburger Jugendherberge nicht nur die 20 Arbeitsplätze der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Jeder der 14.000 Gäste lässt pro Tag durchschnittlich 80 Euro in der Stadt, die er in Cafés, Geschäften oder im Kino ausgibt. Das sind mehr als zwei Millionen Euro, die durch die Gäste der Jugendherberge im lokalen Handel landen, hat Schmidt ausgerechnet: "Das zeigt den Wert der Jugendherberge in Zahlen für die Stadt." Allein der Bäcker, mit dem die Jugendherberge zusammenarbeitet, verkaufe nun 40.000 Brötchen weniger. Auch dem Obsthändler und dem Kaffeeröster fehle der Umsatz mit der Herbergsküche. Zudem gebe es in Marburg praktisch keine Alternative für junge Reisende und Tagungen mit kleinem Budget.
Aktuell geht es aber zunächst darum, dass die Jugendherbergen in Hessen insgesamt überleben. Erst danach könne man schauen, ob es für die Marburger Herberge weitergehe, berichtet Schmidt. Die Millionen, die für den Neubau einkalkuliert waren, sind schon fast aufgebraucht, sagt Herbergssprecher Knut Stolle. Und aus eigener Kraft kann der Verband die Gelder nicht erneut stemmen. "Wir brauchen viele, die sich für das Projekt stark machen", sagt Peter Schmidt. Um den günstigen Jugendlichentourismus zu erhalten, müsse man ein sozialpolitisches Zeichen setzen. Sonst drohe eine Bauruine.
"Jeder, mit dem ich spreche, sagt mir, dass Marburg ohne Jugendherberge nicht denkbar ist", sagt Peter Schmidt. Der Jugendherbergsvater ist angesichts der Baukosten von sieben Millionen Euro trotzdem pessimistisch: "Es gibt im Moment so viele, die gerettet werden müssen. Und wir haben nicht die Strahlkraft der Lufthansa."