Thema der Woche | 8. August 2019

Robuste Nische

Der inklusive Betrieb Marmed – Foto: Georg Kronenberg

Beim Tierarztpraxis-Ausstatter Marmed bei Marburg ist jeder zweite Mit­arbeiter schwerbehindert. Auf den ersten Blick merkt man das aber kaum. Im Gegenteil: Die Mitarbeiter sind besonders engagiert und selten krank.

"Praxis Dr. Althoff" hat ein Kollege an die Tür der EDV-Abteilung geschrieben. Genau genommen handelt es sich um einen nur 18 Quadratmeter großen Raum, den sich die drei IT-Spezialisten der Firma mit ihren Computern, dem Server­schrank und einem Regal voller Akten und Kabel teilen. Den größten Bildschirm hat Andreas Althoff, der Leiter der Abteilung, der bewusst in der dunkelsten Ecke sitzt. Der 54-Jährige ist nämlich total farbenblind. Deshalb sieht er nachts und bei schlechten Lichtverhältnissen besser als im Sonnenschein. Um lesen zu können, vergrößert er sich die Schriften am PC. Viele Details kann er nicht wahrnehmen. Und er ist so lichtempfindlich, dass er den Fensterplatz mit Blick auf Cölbe gern seinem Kollegen und Arbeitsplatzassistenten Thomas Beitz überlässt.

Als Marmed 2001 gegründet wurde, hat Althoff das gesamte IT-Netzwerk aufgebaut, servergespeicherte Profile für die Mitarbeiter entwickelt und die Software für die Lagerhaltung programmiert. Der ausgebildete Daten­ver­arbeitungs­kauf­mann, der viele Jahre in einem Computerladen gearbeitet hat, kann an der Technik verzweifelnden Mitarbeitern besonders kompetenthelfen, berichtet Geschäftsführer Peter Jacobs. Im Gegensatz zu seinen sehenden Kollegen hat er die Rechner vor seinem inneren Auge und kann daher auch am Telefon sehr gut herausfinden, woran etwas hakt: "Er kompensiert das fehlende Sehen mit seinem unheimlich guten Gedächtnis", weiß Jacobs.

Ein bisschen Unterstützung braucht Althoff aber dennoch. Nicht beim Programmieren – pfiffige Lösungen am PC zu finden, macht ihm schon seit seiner Schulzeit Spaß. Aber wenn eine Software nicht barrierefrei ist oder wenn es darum geht, lange Bedienungsleitungen und Datenblätter zu überfliegen, um eine bestimmte Information zu finden, hilft ihm Arbeitsplatzassistent Thomas Beitz. Besonders wichtig ist der Kollege bei der Arbeit am Serverschrank, sagt Althoff. Er selbst könne nur mit viel Mühe und einer Lupe den Verlauf der nummerierten Kabel richtig erkennen. Wenn neue Computer oder Telefone anzuschließen sind, übernimmt daher meist Beitz. Die Arbeitsplatzassistenz ist aber nur ein kleiner Teil der Aufgaben des Fachinformatikers, der sich ansonsten vor allem um die Hardware im Unternehmen kümmert.

Marmed mit seinen 20 Mitarbeitern gehört auf dem Markt der Unternehmen für Veterinärbedarf und Ausstattung für Tierarztpraxen und Tierkliniken zu den kleineren Anbietern. Den Marktanteil in Deutschland schätzt Jacobs auf zwei bis drei Prozent. Doch nach dem Monitoring des Integrationsamtes zählt Marmet zu den "erfreulich erfolgreichen und stabilen Inklusionsbetrieben".

Dazu gehört ein treuer Kundenstamm. Schließlich werden auch Sonderwünsche erfüllt. Es gibt einen umfangreichen Service mit Wartung und Reparaturen sowie gründliche Beratungen für Praxisgründer. Der Katalog bietet mit knapp 3000 Produkten fast alles, was Tierarztpraxen brauchen. Dabei reicht das Angebot von Narkose­geräten über Zahnbehandlungseinheiten bis zu Kitteln, Narkose­masken, Tupfern, Pinzetten, Wundhaken, Skalpellen und Knochen­platten. Robuste Käfige und OP- Tische aus Edelstahl werden im benachbarten Mutter­unternehmen Technologie Transfer Marburg eigens angefertigt.

Dass die Hälfte der Belegschaft einen Behinderungsgrad hat, betont das Unternehmen nicht: "Wir wollen durch unsere Arbeit überzeugen", erklärt die zukünftige Geschäftsführerin Corinna Drobe, die Jacobs im August ablöst. Wer durch den Betrieb gehe, könne auch meist nicht erkennen, wer behindert sei: "Es ist alles so gut integriert, dass es einfach gut klappt", berichten auch die Mitarbeiter. Dabei reichen die Beeinträchtigungen von psychischen Erkrankungen über schweres Rheuma und Niereninsuffizienz bis zu Sehbehinderungen und Diabetes. Der Landeswohlfahrtsverband fördert das Engagement mit Personalkostenzuschüssen.

Marmed hat gute Erfahrungen mit der Inklusion gemacht. Die Mitarbeiter seien leistungsfähig und haben ein hohes Arbeitsethos, berichtet Jacobs: "Viele gehen auch dann mit Elan zur Arbeit, wenn es ihnen nicht so gut geht." Allerdings achtet das Unternehmen darauf, dass wenige Überstunden anfallen und dass die Stimmung stimmt. Feiern im Sommer, zum Jahreswechsel und zu bestan­de­nen Prüfungen gehören ebenso dazu wie gemeinsame Entscheidungen – etwa über Vertriebsstrategien, Urlaubsplanung und Personalauswahl.

"Die Mitarbeiter werden nach ihren Stärken eingesetzt", sagt Althoff. Jörg Acker zum Beispiel liebt es, seriöse, zuverlässige, aber trotzdem günstige Anbieter aufzuspüren, mit Lieferanten zu verhandeln und gute Preise herauszuschlagen. Der Diabetiker, der seit 15 Jahren bei Marmed arbeitet, ist für gesamten Einkauf und die Grafik zuständig. Dabei ist er – wie viele Mitarbeiter des Unternehmens – ein Quereinsteiger. Ursprünglich hat er Rundfunk- und Fernsehtechnik gelernt, Elektrotechnik studiert und viele Jahre für den Ton bei Konzerten sowie bei Veranstaltungen wie Hessen- und Kirchentagen gesorgt. Doch irgendwann hatte der zweifache Familienvater genug vom dauernden Herumreisen und wechselte zu Marmed. Langweilig findet er die Arbeit dennoch nicht. Um noch besser mit Herstellern aus dem Ausland verhandeln zu können, machte er ein Englisch-Zertifikat. Er besuchte Kurse, um ansprechende Produktfotos für den Katalog zu machen. Heute ist das Fotografieren sein Hobby. Fürs Büro hat er sich eigens ein Lichtzelt angeschafft, um Stethoskope, Wundhaken und Laborgläser in Szene zu rücken.

Der Diabetes macht ihm im Alltag kaum zu schaffen: "Ich muss nur früh genug daran denken und darauf achten", sagt Acker. Seine Chefs sehen sogar vorteil­hafte Auswirkungen auf die Arbeit: "Man muss sehr zeitorientiert und gut organisiert leben", sagt Jacobs. Und so sorgfältig und wohl überlegt arbeite er auch im Büro. "Wir brauchen ihn ganz dringend", sagt Corinna Drobe.

Aber auch die Mitarbeiter wissen zu schätzen, dass auf besondere Situationen Rücksicht genommen wird. So ist IT-Spezialist Althoff seit vier Jahren allein erziehender Vater eines elfjährigen Sohnes. "Ein Balanceakt", sagt er. Und auch im Lager ist die Atmosphäre entspannt, berichtet Ausbilder Andreas Pilarski, dergerade einen neuen Praktikanten einweist: "Manchmal ist der Ablauf etwas langsamer", sagt er: "Aber jeder arbeitet, so gut er kann."

Ursprung in der Entwicklungshilfe
Der Inklusionsbetrieb Marmed wurde 2001 als Tochterunternehmen des Medizin­projekte-Ausstatters Technologie Transfer Marburg (TTM) gegründet. Beide Firmen sitzen bis heute direkt nebeneinander auf dem Gelände am Lahnradweg zwischen Marburg und Cölbe und arbeiten eng zusammen.
Die seit Anfang der 1980er Jahre bestehende Muttergesellschaft hat ursprünglich gebrauchte medizinische Geräte aufgearbeitet und in Entwicklungsländer verschickt. Deshalb ist TTM als nicht gewinnorientierter Verein organisiert. Heute bietet die Firma ein breites Spektrum an medizinischer Ausrüstung für inter­nationale Projekte. Dazu gehören in Kisten verpackte Feldhospitäler, die zum Beispiel während des Genozids in Ruanda, in den Kriegsgebieten Ex-Jugoslawiens, nach dem Tsunami in Banda Aceh und den Erdbeben in Haiti im Einsatz waren. Da in Kriegs- und Krisengebieten einfache, robuste Geräte benötigt werden, werden mechanische OP-Tische sogar selbst produziert, wobei die Muttergesellschaft auch Sonderanfertigungen für Tierarztpraxen herstellt. TTM arbeitet viel mit dem Deutschen Roten Kreuz zusammen, aber auch mit "Ärzte ohne Grenzen" und "Cap Anamur". Für die Weltgesundheitsorganisation betreut TTM ein großes Tuber­ku­lose­projekt in mehr als 20 Ländern.
In den 90er Jahren hatte sich unter den Tierärzten aus der Region herum­gesprochen, dass es bei dem ungewöhnlichen Unternehmen günstige Materialien und gebrauchte Geräte gab. Mit der Marmed GmbH wurde 2001 die Veterinärsparte ausgegliedert und zugleich ein Inklusionsprojekt gegründet. Der Neubau für das Unternehmen wurde unter anderem durch Zuschüsse des hessischen Integrations­amtes finanziert.
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Gesa Coordes