Marburg ist keine Stadt der großen Koalitionen. In den vergangenen 49 Jahren ist es nur zweimal passiert, dass SPD und CDU ein Bündnis geschmiedet haben. Nun haben sie es angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse im Stadtparlament erneut gewagt. In den kommenden Jahren wird Marburg von einer Zweckgemeinschaft aus SPD, CDU und "Bürgern für Marburg" regiert. Vorsichtshalber sprechen die Beteiligten nicht von einer Koalition. "Partnerschaft für Marburger Themen" heißt das Bündnis. Und sie haben vereinbart, dass sie bei kniffligen Themen auch unterschiedlich abstimmen dürfen.
Die Zurückhaltung ist berechtigt. In der Vergangenheit haben die Sozialdemokraten sogar einen als sicher geltenden Oberbürgermeisterposten verloren, weil sich der damalige Kandidat Gerhard Pätzold für eine Große Koalition ausgesprochen hatte. Daraufhin gaben viele Sympathisanten der Grünen weiße Stimmzettel ab. CDU-Mann Dietrich Möller gewann die Direktwahl 1993 hauchdünn. Und die großen Koalitionen der Vergangenheit sind immer wieder an einem Thema gescheitert, dass auch jetzt wieder Potenzial für großen Streit hat der Verkehr. Das aktuelle Bündnis hat bereits einen Beschluss für die Erweiterung des Parkhauses am Pilgrimstein auf den Weg gebracht.
Ein Blick in die Geschichte Marburgs: Nach den Kommunalwahlen von 1974 hatte die sozialliberale Koalition unter dem damaligen Oberbürgermeister Hanno Drechsler ihre Mehrheit verloren. Gemeinsam mit der erstmals ins Stadtparlament eingezogenen DKP hätte es zwar noch für ein linkes Bündnis gereicht. Das konnte sich Drechsler, der sich nach seiner DDR-Erfahrung einen "antikommunistischen Tick" attestierte, aber gar nicht vorstellen. 1976 vereinbarte er die Koalition mit der CDU. "Abgesehen von der Verkehrspolitik lief es gut", erinnert sich der frühere Stadtsprecher und Historiker Erhard Dettmering (SPD).
Nach der nächsten Kommunalwahl versuchte die SPD, aus der großen Koalition auszubrechen und bildete die erste Ampelkoalition Hessens. Das Bündnis scheiterte aber schon nach wenigen Monaten, nachdem Grüne im Marburger Schloss eine Ausstellungseröffnung durch den SPD-Ministerpräsidenten und Startbahn-West-Befürworter Holger Börner massiv gestört hatten. Drechsler ging erneut eine große Koalition ein, die bis zum Ende der Legislaturperiode hielt.
1985 entschieden sich die Sozialdemokraten für ein rot-grünes Bündnis das hatte damals noch Seltenheitswert. Hauptgrund war die Verkehrspolitik. Die CDU so berichtet Dettmering wollte Marburg so autogerecht ausbauen, dass in Höhe der Mensa eine vierspurige Brücke über die Lahn geführt hätte. Drechsler, dem die Stadt die vorbildliche Altstadtsanierung zu verdanken hat, konnte sich das nicht vorstellen und wagte das Experiment mit der Umweltpartei.
In einer Stadt wie Marburg ist ein Bündnis mit der CDU vor allem für die Sozialdemokraten ein Risiko. Deswegen hält Dettmering es für gut, dass ein unterschiedliches Stimmverhalten möglich ist: "Das ist ein sehr interessantes Modell", sagt der Sozialdemokrat, der an den aktuellen Gesprächen nicht beteiligt war. Zudem war die alte Ehe zwischen SPD und Grünen sie hielt immerhin mehr als 20 Jahre völlig zerrüttet. "Mit dieser grünen Führungsschicht war nichts mehr zu machen", meint Dettmering: "Nach endlosen Gesprächen und Streitereien lagen die Nerven blank."
Eine große Koalition bilde man nur, "wenn es nicht anders geht", sagt Friedrich Bohl (CDU), der ehemalige Kanzleramtsminister unter Helmut Kohl, der Jahrzehnte die Marburger Region im Bundestag vertreten hat: "Das ist eine Vernunftgemeinschaft in einer verworrenen Lage." 2001 hat der einstige Politprofi die erste Jamaika-Koalition Deutschlands ausgehandelt ein Bündnis zwischen CDU, FDP, FWG und Grünen im Kreis Marburg-Biedenkopf, das mit Varianten bis 2014 hielt: "Das ging deshalb, weil wir uns menschlich gut verstanden haben", erläutert Bohl: "Das ist der Kitt einer jeden Koalition." Wie gut sich SPD, CDU und BfM in Marburg in Zukunft verstehen, muss sich erst erweisen. Der Verkehr sei aber sicherlich "eine Sollbruchstelle", sagt Bohl: "Da muss man aufpassen."