Kreidestriche zeigen an, wo die 28-jährige Radlerin tödlich verunglückt ist. Die Umrisse des hellen Damenfahrrads, das in der Marburger Bahnhofstraße liegen blieb, sind auch nach Tagen noch zu sehen. Dreimal haben sich bis zu 50 Bürger zum stillen Gedenken an die junge Frau an der Unfallstelle vor der Hauptpost versammelt. Die abgelegten Tulpen wurden schnell überfahren.
Nach dem Tod einer 28-Jährigen ist die Radlerszene der Universitätsstadt geschockt: "Wir wollen nicht, dass wieder zur Tagesordnung übergegangen wird", sagt Henning Köster von der Marburger Linken, der die zweite Gedenkaktion organisiert hat. Er berichtet von Bekannten, die gern radeln, sich aber nicht mehr in die Innenstadt trauten, weil sie den Verkehr als bedrohlich empfänden. "Marburg ist ein gefährliches Pflaster für Radfahrer", bestätigt eine Radlerin. Die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung schilderten zahlreiche Beinaheunfälle mit Autos.
Die Ursache für den Tod der 28-Jährigen ist allerdings noch nicht klar. Nach Auskunft der Polizei war sie unter den Anhänger eines Lastwagens gekommen und starb kurz darauf im Krankenhaus. Sie sei auf der rechten Spur der Bahnhofstraße unterwegs gewesen, der Laster auf der mittleren Spur. Auf der Höhe der Post wurde sie von dem Anhänger überrollt. Die Staatsanwaltschaft hat ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben, mit dessen Ergebnis Ende Februar gerechnet wird. Dazu werden auch die Bilder ausgewertet, die ein Polizeihubschrauber direkt nach dem Unfall aus der Luft gemacht hat.
Wie vergiftet das Klima zwischen Radlern und Autofahrern ist, zeigt der Kommentar eines Anwohners, von dem der verkehrspolitische Sprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs in Marburg, Wolfgang Schuch, berichtet. "Scheiß Radfahrer" habe dieser nach dem Unfall geschimpft. Passanten hätten ihm beigepflichtet. "In dieser Stadt gibt es eine sehr starke Polarisierung", so Schuch: "Es wird nicht gezeigt, dass sowohl Rad- als auch Autofahren geht."
Zudem wird schon lange über den Verkehr in der Marburger Bahnhofsstraße gestritten. Im oberen Teil gibt es im Rahmen eines Verkehrsversuchs seit Ende 2015 Radstreifen. Das ist eine große Verbesserung für Radfahrer. Geschäftsleute und Autofahrer laufen jedoch dagegen Sturm, weil dadurch eine Autospur wegfiel. Im unteren Teil, in dem der tödliche Unfall passierte, gibt es bislang keine Radwege, auch in der angrenzenden Elisabethstraße nicht. Schuch erinnert jedoch daran, dass es eigentlich Konsens im Bürgerbeteiligungsverfahren gewesen sei, die Elisabethstraße zur autofreien Umweltstraße zu machen. Tatsächlich ist eine Fortsetzung des Radweges auf der gesamten Bahnhofstraße geplant, aber noch nicht beschlossen.
Nach der Analyse des Planungsbüros Nord für den Marburger Radverkehr wurden von 2011 bis 2014 weitgehend flächig über die Stadt verteilt 190 Unfälle mit Radlern gemeldet. Meist handelte es sich dabei um Kollisionen mit Autos (87 Prozent). In sieben Prozent der Fälle ging es um Unfälle mit Fußgängern. Das bedeutet, dass durchschnittlich fast jede Woche ein Crash mit einem Radler passiert. Allerdings handelt es sich bei diesen Zahlen nur um die gemeldeten Unfälle. Die Dunkelziffer ist hoch. Wie oft Radler dabei verletzt wurden, ist auch unklar.
Ob dies im Vergleich zu anderen Städten besonders viele Unfälle sind, ist nach Einschätzung des Vorsitzenden des Radverkehrsbeirats, Wolfgang Liprecht, schwer zu sagen. Die Straßen Marburgs seien beengt. Und er zitiert den Marburger Oberbürgermeister Thomas Spies, der mehrfach zu mehr Rücksicht gegenüber den schwächeren Verkehrsteilnehmern aufrief.