Die jungen Leute mit den weißen Langstöcken sind Nachbarn, Kommilitonen und selbstverständlicher Teil des Straßenbildes: In keiner anderen deutschen Stadt gibt es im Verhältnis zur Bevölkerung so viele blinde und sehbehinderte Menschen wie in Marburg. Von hier aus traten die akustischen Ampeln und die weißen Langstöcke ihren Siegeszug an. Schon seit Jahrzehnten gibt es sprechende Aufzüge, plastische Stadtpläne und Speisekarten in Punktschrift.
Zu verdanken hat die Universitätsstadt dies der Deutschen Blindenstudienanstalt (Blista), die hier bereits vor 100 Jahren gegründet wurde. Vom 1. bis zum 3. Juli feiert sie ihr Jubiläum mit einem Festival. Passend zum Jubiläumsjahr hat das Kulturamt der Stadt ein Faltblatt herausgegeben, mit dem Touristen und Einheimische die "Blindenstadt Marburg" erkunden können. Zudem lockt eine ungewöhnliche Ausstellung mit dem Titel "blick:punkte" im Landgrafenschloss.
Auslöser für die Gründung der Blista waren die vielen jungen Soldaten, die blind aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrten. Die meisten hatten ihr Augenlicht durch die neue Kriegsführung verloren als Folge von Minen, Handgranaten, stark splitternden Geschossen, Giftgas und Schützengräben, in denen die Soldaten mit erhobenem Kopf lagen. Viele von ihnen landeten in Marburg, wo Prof. Alfred Bielschowsky (1871-1940) als Direktor der Universitäts-Augenklinik eine eigene Abteilung für Kriegsblinde einrichtete. Der herausragende Forscher und Sohn jüdischer Kaufleute erkannte jedoch schnell, dass Medizin allein nicht reichen würde, wenn die jungen Männer in Zukunft nicht nur betteln und Körbe flechten sollten. Unter den Heimkehrern waren auch viele Gymnasiasten, Studenten und junge Akademiker. Bielschowsky organisierte Kurse für Blindenschrift, kümmerte sich um Unterkünfte, Literatur und Hilfsmittel.
Dazu engagierte er den Studenten Carl Strehl (1886-1971), der selbst fast seine gesamte Sehkraft bei einer Explosion in einem New Yorker Chemielabor verloren hatte. Nun unterrichtete Strehl die Kriegsblinden in der nach dem französischen Pädagogen benannten Brailleschrift.
Um eine höhere Bildung zu ermöglichen, wurden 1916 der Verein blinder Akademiker und die Deutsche Blindenstudienanstalt gegründet. Bielschowsky wurde ehrenamtlicher Direktor der Blista. Strehl übernahm die Geschäftsführung. Ab 1927 wirkte er als Direktor, was er fast 40 Jahre lang blieb.
Die "Carl-Strehl-Schule" das weltweit erste Gymnasium für blinde und sehbehinderte Jugendliche ist bis heute der Kern der Blista, die insgesamt 400 Mitarbeiter hat. Mit viel Sport, Mobilitätstraining und speziellem Unterricht bereiten sich hier 280 blinde und sehbehinderte Jugendliche auf das Arbeitsleben vor. Sie werden einzigartig in Deutschland schon ab Klasse 5 aufgenommen.
Mit ihren Konzepten ist die Blindenstudienanstalt seit Jahrzehnten Vorreiter: Die Jugendlichen leben in rund 40 über die Stadt verteilten, betreuten Wohngemeinschaften. Dadurch gehören Bus fahren, Freunde besuchen, Essen, ohne zu kleckern, Kochen, Wäsche waschen, Staubsaugen und Putzen zum Programm.
Im Unterricht wird möglichst viel durch Experimente gelernt. Was beim Sehen fehlt, wird durch eigenes Fühlen, Hören oder Riechen ersetzt. So gibt es Modelle, um Erdbeben zu verstehen, Menschenfiguren zum Auseinandernehmen, Moleküle zum Zusammenstecken. Strom und Farben werden zu Tönen. Stickoxyd wird geschnuppert. Im Unterricht verstecken kann man sich nicht. Die Klassen sind nämlich mit sechs bis zwölf Schülern außergewöhnlich klein.
Die meisten der aus ganz Deutschland kommenden Jugendlichen teilen die Erfahrung, dass eine Integration in normalen Gymnasien oft schwierig ist. An der Blista sind Hilfsmittel wie Computer mit Braillezeile und Sprachausgabe, Bildschirmlesegeräte und Lupenbrillen, Literatur in Blindenschrift und Screenreader mit Vergrößerungssoftware selbstverständlich. In Marburg lernen sie Sportarten, die man ihnen sonst oft nicht zugetraut: Neben Reiten, Schwimmen und Radfahren gehören auch Judo, Rudern, Surfen, Skifahren und Fußballspielen zum Programm. Dazu kommen viele Exkursionen, Theaterspiel und Praktika. Dadurch sind die Blista-Schüler sehr erfolgreich: Beim Zentralabitur entsprechen ihre Noten dem Bundesdurchschnitt. Nur wenige fallen durch oder brechen ab. Das Gros findet Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Berühmte Absolventen hat die Blista: Die fünffache Goldmedaillen-Gewinnerin bei den Paralympics, Verena Bentele, ist seit 2014 Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. Sabriye Tenberken reiste allein nach Tibet, wo sie eine Blindenschule gründete und auf den Nachbarberg des Mount Everet stieg. Die Nachwuchskomponistin Sarah Pisek errang einen Bambi. Dazu kommen bekannte Schauspielerinnen, Sänger, Reporter, Politiker und Juristen.
Bemitleidenswerte Geschöpfe sind die Blinden und Sehbehinderten in Marburg jedenfalls nicht. Viele laufen so zügig durch Marburgs Gassen, dass sie Sehende überholen. Scheinbar mühelos finden sie sich in Bussen und Behörden zurecht. Daher passiert es in Marburg selten, dass Blinde wider Willen über die Straße geführt werden. Man muss auch nicht erklären, dass Blinde studieren können. Und man darf, so sagen Blista-Schüler, auch einmal schlecht über einen Blinden sprechen.