Ein Nietenarmband verdeckt die Stelle, an der Lisa (Name geändert) versuchte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Doch der ganze Arm ist voller Narben. Lisa war 14 Jahre alt, als sie anfing, sich zunächst mit spitzen Stiften, dann mit Messern und schließlich mit Rasierklingen zu ritzen. "Mein Arm spricht Bände", sagt die heute 17-Jährige.
Zweimal war sie in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Lahnhöhe in Marburg. Jetzt möchte sie anderen Jugendlichen Mut machen zu diesem Schritt.
"Mit den Betreuern konnte ich reden", sagt sie im Rückblick. Sie erinnert sich an den Stress zu Hause und an das Mobbing in der Schule, in der die Mitschüler sie beschimpften und ihre Sachen durch den Klassenraum pfefferten. "Du stinkst", behaupteten sie. "Keiner will dich", sagten sie. Irgendwann sei sie in der Schule eigentlich gar nicht mehr da gewesen: "Ich war nur anwesend", sagt Lisa, deren Noten in den Keller rutschten.
Dass sie sich ritzte, fiel aber erst Monate später auf: Als die Polizei vor der Tür stand, weil sie ein Päckchen Rasierklingen geklaut hatte. Da hatte sie schon zwei ebenfalls unbemerkte Selbstmordversuche hinter sich. Ihre Mutter war geschockt und wollte etwas unternehmen. Lisa ging freiwillig in die Klinik Lahnhöhe.
"Anfangs war das alles sehr ungewohnt", sagt sie. Aber sie habe sich gleich mit ihren neuen Mitbewohnern angefreundet. Sie zeichnete, malte und schrieb Geschichten. Die Anna-Freud-Schule des Landeswohlfahrtsverbands Hessen direkt neben dem Klinikgebäude machte ihr plötzlich wieder Spaß: "Es fiel mir ganz leicht, mich zu konzentrieren", sagt Lisa. Sie, die nie Freunde in der Schule hatte, fand plötzlich welche und erlebte ihre erste schöne Klassenfahrt. Und es tat ihr gut, fort vom täglichen Ärger zu Hause zu sein.
Nach den Monaten in der Klinik Lahnhöhe entschied sich Lisa, in eine Jugend-Wohngemeinschaft zu ziehen und vom Gymnasialzweig auf die Realschule zu wechseln. Mobbing gab es in ihrer neuen Klasse nicht. Und sie ist so selbstbewusst geworden, dass sie sich traut, auch einmal Kontra zu geben. "Ich kriege jetzt so viele Sachen hin", staunt sie selbst. Nur einmal nachdem ihre halbe Wohngemeinschaft abgebrannt war geriet sie wieder in eine Krise und kam für einen Monat zurück in die Lahnhöhe.
Jetzt hat sie gerade ihren Schulabschluss gemacht und sich in fast jedem Fach um zwei Noten verbessert. Im Sommer wird sie auf ein berufliches Gymnasium wechseln, wo sie eine naturwissenschaftliche Ausbildung macht. "Ich mag Zahlen, Experimente und Teilchenphysik", erklärt sie lachend.
Alle drei Monate kommt sie noch einmal für ein Gespräch in die Ambulanz der Klinik Lahnhöhe. Manchmal schaut sie dann an der Netzschaukel vor der Schule vorbei. "Da haben wir zu zehnt drauf gehockt, während auf der Wiese Gitarre gespielt wurde", erzählt sie.
Viele Gießener wollen mehr direkte Demokratie. Das ist ein Ergebnis einer Umfrage zum Thema Bürgerbeteiligung, die die Stadt Gießen in Auftrag gegeben hat.
Für die Umfrage wurden 1000 repräsentativ ausgewählte Gießener angeschrieben und anonym zu ihrer Zufriedenheit mit der lokalen Demokratie sowie zu ihrem Interesse, sich politisch zu beteiligen, befragt.
286 Personen, also rund 30 Prozent der Angeschriebenen, antworteten. Eine Zahl, mit der man laut Stadt zuverlässige repräsentative Aussagen über die Zufriedenheit mit der Demokratie aller Gießener treffen kann. An einer zusätzlichen offenen Befragung beteiligten sich 397 Menschen.
Die Ergebnisse: Analog zu der im Vergleich zu Bundestags- und Landtagswahlen geringeren Wahlbeteiligung der Gießener an kommunalen Wahlen zeigen die Befragten auch ein geringeres Interesse an Kommunalpolitik als an "großer Politik" (19 % interessieren sich nicht für Kommunalpolitik).
Analog zum langfristigen Bundestrend verhält es sich auch in Gießen: Es gibt einen deutlichen Wertewandel. Selbstverwirklichung (92 % Zustimmung) ist ein höheres Gut als Gehorsam (45 %) oder Pflichterfüllung (68 %) für die Gießener. Soziale Werte haben nach wie vor eine hohe Bedeutung: 84%. Persönliche Unabhängigkeit, Entscheidungsfreiheit und Individualität bedingen Entscheidungen auch bei politischer Einlassung.
Dabei geben aber nur 25 % an, nicht zufrieden zu sein mit dem Funktionieren der Demokratie in der Stadt. In der offenen Befragung war dieser Anteil weit höher: 42%. Dies zeigt, dass der politisch besonders interessierte Teil der Bevölkerung viel kritischer eingestellt ist.
Eine Vielzahl von Befragten wünscht sich mehr direktdemokratische Elemente (Abstimmungen, Bürgerbegehren etc.): lediglich 31 % fühlen sich voll aufgehoben in der repräsentativen Demokratie.
Nur etwa 5-10 % der Befragten sind politisch aktiv beteiligen sich bereits in Initiativen, Parteien und auch an bestehenden Beteiligungsangeboten.
15-20 % sind politisch passiv und nicht an Beteiligung interessiert.
Eine große Gruppe von 70-80 % der Gießener/innen ist politisch aktivierbar, nimmt an Wahlen und/oder Bürgerentscheiden teil und engagiert sich, wenn sie von Entscheidungen persönlich betroffen ist oder ihnen eine besondere Bedeutung beimisst.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung (ca. 52 %) wünscht sich mehr Beteiligungsmöglichkeiten (offene Gruppe: 71%!).
Mehr als die Hälfte derjenigen, die für eine politische Beteiligung aktivierbar sind, sind erreichbar über wenig zeitaufwendige Beteiligungsformen, denen aber dennoch eine hohe Wirksamkeit zugeschrieben wird: Diese Gruppe neigt z.B. dazu, bestimmte Produkte zu boykottieren und sich an Unterschriftenaktionen zu beteiligen.
Nur noch weit weniger als ein Viertel der Bevölkerung würde sich dagegen an zeitaufwendigeren Formen beteiligen (Unterschiede in der offenen Befragung allerdings deutlich!).
Neben Wahlen wird von der Mehrheit der Bevölkerung die Aufmerksamkeit der Medien zu erlangen, als politisch besonders wirksam eingeschätzt. Als wirksam eingeschätzt wird auch: Die Teilnahme an einer Bürgerbefragung, sowie die Mitarbeit in Vereinen, Initiativen und Parteien.
"Dieses Ergebnis zeigt uns, dass wir nicht mehr nur darauf hinarbeiten dürfen, die Bürger/innen in ihrer Gesamtheit als Experten und als Partner unserer Planungen zu sehen, sondern vor allem als Korrektiv unserer Entscheidungen," sagt Gießens Oberbürgermeisterin Grabe-Bolz. Dazu passe, dass die Menschen durchaus bereit seien, Engagement als Protest gegen Planungen zu entfalten aber eine Umlenkung in die Bereitschaft mitzuarbeiten nur bei einer eher kleinen Bevölkerungsgruppe gelingen könne. Diese Erfahrung werde auch bundesweit trotz vielfacher Bemühungen um mehr Bürgerbeteiligung im Vorfeld von Planungen geteilt, erinnerte die OB.
"Das bedeutet aber nicht, dass wir tatenlos bleiben müssen", so die OB. "Ich halte auch Protest generell ob durch Produktboykott in Richtung Globalisierung oder die Gründung einer Bürgerinitiative gegen eine unserer Planungen für ein zutiefst demokratisches und ein absolut legitimes Mittel, um sich politisch zu engagieren. Jeder Protest ist nicht in erster Linie ein Einsatz gegen ein Vorhaben, sondern vor allem ein Einsatz für die eigene, vielleicht auch individuelle Auffasssung dessen, was besser wäre also auch ein Einsatz für das Gemeinwohl, in dem jeder und jede Platz und Stimme hat."