In Fronhausen bei Marburg wird Geburtstag gefeiert. Sanni, die Mutter von Friedrich, Karl, Trude und Jenni wird 45 Jahre alt. Was haben die Kinder ihr wohl geschenkt? Haben sie gelacht? Geklatscht? Vielleicht sangen sie ihrer Mutter auch gemeinsam ein Lied: Zum Geburtstag viel Glück.
Am gleichen Tag werden in Riga, der Hauptstadt Lettlands, 15.000 Menschen bei klirrender Kälte zu Fuß aus dem Ghetto in das Kiefernwäldchen Rumbula geführt. Dort müssen sie ihre Oberbekleidung ausziehen und dann weiter gehen zu den bereits ausgehobenen Gruben, wo deutsche Soldaten des Sicherheitsdienstes mit ihren Gewehren warten. Bei der Geburtstagsfeier in Fronhausen wissen Friedrich, Trude, Jenni und Sanni sicherlich nichts davon, dass im weit entfernten Riga das Ghetto "freigemacht" wird, damit sie zwei Wochen später dorthin deportiert werden können.
Wir werden durchnässt bis auf die Herzhaut, wenn wir uns solche Situationen vorstellen", sagt Rolf Michenfelder, während sich Tränen in seinen Augen sammeln. Er wirkt betroffen, ruhig und man merkt sehr deutlich, dass er sich schon länger mit dem Thema beschäftigt.
Rolf Michenfelder ist Teil des german-stage-service-Teams im Marburger G-Werk und mitverantwortlich für ein Theaterstück, welches genau das tut. Es durchnässt bis auf die Herzhaut. Anlässlich des 6. Septembers, an dem sich die dritte Deportation Marburger Juden zum 70. Mal jährt, erschuf er in Zusammenarbeit mit der Geschichtswerkstatt Marburg eine Reise durch die damalige Zeit und durch die eigene Vorstellungskraft. Ein Stück, das unter die Haut geht. "Was stellen wir uns vor, wenn wir uns vorstellen, was damals gewesen sein könnte?", lautet die zentrale Frage, mit der sich das Vier-Personen-Stück beschäftigt. "Viele Menschen sagen, was damals geschehen ist, sei 'unvorstellbar', aber dem ist nicht so. Zu sagen es sei 'unvorstellbar' ist nur die einfachste Lösung, weil man sich dann keine weiteren Gedanken darüber machen muss", erklärt der 60-jährige Marburger. Dabei sei gerade das so wichtig. Sich damit befassen, nicht vergessen, sondern sich vor Augen halten, was damals geschehen ist und somit das wiederkehren ähnlicher Situationen zu verhindern.
Anhand von Büchern, Videos, Bildern und Texten aus der Zeit um 1942, als die letzten Juden Marburgs zur Ermordung nach Riga, Lublin und Theresienstadt verfrachtet wurden, erarbeitete dievierköpfige Theatergruppe, bestehend aus Anna Krauß, Nisse Kreysing, Christoph Müller-Kimpel und Rolf Michenfelder, ein Stück, in dem sie sich nicht in fremde Rollen begeben, sondern aus den eigenen Vorstellungen heraus erzählen. "Es ist eine Mischung aus Lesung und Performance", so Rolf Michenfelder, "natürlich lesen wir auf der Bühne keine Texte vor, aber dennoch steht das Gesagte im Vordergrund."
Anhand von einzelnen recherchierten Beispielen werden eigene Vorstellungen und Gedanken gefasst, die dem Zuschauer einen ganz anderen, emotionalen Einblick in das Leben derer gewährt, die einmal fuhren und nie wiederkehrten. Da ist zum Beispiel das kleine Mädchen, dem man alle seine Kleidchen übereinander anzieht. Mitten im Sommer. Und der stolze Junge vor dem Schaufenster der Metzgerei. Da ist die Liebe einer jungen Frau, die mit 17 Jahren ihr letztes Gedicht schreibt. Und der Büstenhalter, den man sich aus dem überflüssigen Stoff einer viel zu großen Hose machen kann. Da ist der gutaussehende Mann mit dem Stab und den weißen Handschuhen auf dem LKW. Und die Tannenzweige links und rechts der Himmelsstraße. Und wie heißt es in den Briefen die aus dem Zugfenster geworfen werden: "Noch sind wir nicht am Ziele angelangt und wissen nicht, wie es heißt und wo es ist, aber wir fahren gen Osten der Sonne entgegen."
Vorstellungen am 7. und 8. September, jeweils um 20.00 Uhr im G-Werk in Marburg. Weitere Infos: www.germanstageservice.de