Thema der Woche | 10. November 2011

Kinder an der Macht

"Dass nach dem Tag die Nacht kommt" ist Erwachsenentheater, gespielt von Kindern. Anna Krauß und Rolf Michelfelder vom german stage service haben das Stück des britischen Autors Tim Etchells in Szene gesetzt – Premiere 18.11.2011 20.00 Uhr.

Express: Wie seid ihr auf Tim Etchells' Stück gekommen?
Rolf Michenfelder: Wir hatten Tim Etchells und und seine Performance-Gruppe Forced Entertainment 1998 nach Marburg eingeladen, und seitdem gibt es den Kontakt und auch viele inhaltliche Berührungspunkte. Dann gibt es eine große Nähe zwischen meiner Art zu schreiben und seiner. Das geht soweit, dass ich manchmal am Schreibtisch sitze, etwas von ihm lese und dann laut denke "JA! Genau so muss man es sagen."
Und dann habe ich in meiner letzten Inszenierung "So viele Küsse, so viele Seufzer" im Marburger Welcome Hotel mit einem eigenen Text ein Zimmer inszeniert, in dem sich ein Mädchen mit der Welt der Erwachsenen beschäftigt. Und mit der Idee wollte ich gerne weiterarbeiten. Naja, und dann ist mir eingefallen, dass Tim Etchells in Belgien so etwas gemacht hat, und dann habe ich angerufen und so ging es los.
Und es ist einfach ein toller Text mit ganz präzisen Beobachtungen, mit viel Drive, er ist unnachgiebig und hart und gleichzeitig ganz zart und poetisch, er ist sehr humorvoll und lustig und zugleich unendlich traurig und melancholisch.
Also wer nicht zu den Aufführungen kommt, verpasst wirklich etwas.

 
 

Express: Worum geht's, wie sieht die Inszenierung aus?
Anna Krauß: Es geht um die Wahrnehmungen von Welt, von Gesellschaft, von Zukunft, von Natur und von Leben, die sich Erwachsene angeeignet haben und darum, wie diese Vorstellungen die Wahrnehmungen von Kindern und Jugendlichen formen. Und es geht um die unterschiedlichen Intensitäten und Qualitäten dieser Prozesse der Beeinflussung und Formung, denen keine Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern oder Jugendlichen entgehen kann.
Rolf Michenfelder: Es geht darum, dass 12 Kinder und Jugendliche sich und das Publikum mit all den Aussagen konfrontieren, die ihrem Leben Sinn verleihen sollen. Die Inszenierung zu beschreiben, würde jetzt den Express sprengen. Aber ganz unbescheiden würde ich sagen: das muss man einfach gesehen haben.

Express: Was macht das Stück zu Erwachsenentheater?
Anna Krauß: Wie gesagt, es geht um uns ... Jetzt zitiere ich einfach mal unsere Werbung, da heißt es so schön: Es geht um uns, die Erwachsenen, die wir Eltern sind oder Lehrer oder Freunde der Eltern oder Verwandte oder Trainer oder Erzieher oder Busfahrer oder Hausmeister oder was auch immer.
Rolf Michenfelder: Ja, wir sind das Publikum. Und da sitzen wir mit all unseren Wertvorstellungen und Ratschlägen, mit unseren Handlungen, Wünschen, Verzweiflungstaten, mit unseren Ängsten und Sorgen, unseren schlechten Witzen, unseren unvorsichtigen und kleinlichen Äußerungen, unseren Grenzen, unseren Glücksprojektionen, Bevormundungen, Verboten, Mythen.
Da sitzen wir und haben Meinungen, haben Werte, haben eine Moral und mehr oder weniger klare Vorstellungen davon, was unserem Leben in einer modernen Gesellschaft Sinn verleihen könnte. Da sitzen wir mit all dem, was wir uns angeeignet haben und womit wir die Wahrnehmungen der Kinder und Jugendlichen formen, um sie bereit zu machen für das Leben, das noch kommen soll.
Anna Krauß: Und auf der Bühne erleben wir 12 Kinder und Jugendliche, die sich und uns, dem erwachsenen Publikum, zu verstehen geben, was ihnen von uns, den Erwachsenen, täglich zu verstehen gegeben wird.

Express: Die direkte Ansprache des Publikums zwischen Anklage und Parodie funktioniert ohne erhobenen Zeigefinger?
Rolf Michenfelder: Sowohl wir als auch die jungen Darstellerinnen und Darsteller sind an einem erhobenen Zeigefinger nicht im Geringsten interessiert. Die direkte Ansprache beinhaltet ja auch die verschiedensten Facetten, sie ist unnachgiebig und klar, aber sie ist auch liebevoll, sie ist unverfroren und bitter, aber auch zärtlich, sie ist zornig, aber auch heiter und gelassen.
Anna Krauß: Es geht ja auch eher um einen aktiven Raum der Spiegelung, in der auf beiden Seiten eine Reflexion stattfinden kann, um ein Erkennen der gemeinsamen Verstricktheit.

Express: Zum Ensemble. Wie war das, mit einem Dutzend Kindern und Jugendlichen zu arbeiten?
Rolf Michenfelder: Es war alles dabei. Zwischen Riesenfreude und Bereicherung bis zu Deprimiertheit und Verzweiflung haben wir nichts ausgelassen. Vor allem war es spannend.
Anna Krauß: Es gab ja auch etwas Neues zu entdecken. Kinder, die für Kinder spielen oder Erwachsene, die für Kinder spielen, das kennt man ja, aber Kinder und Jugendliche, die explizit für Erwachsene spielen, das ist noch unentdeckt.
Rolf Michenfelder: Außerdem verzichten die Inszenierung und der Text völlig auf Rollen, die zu spielen wären und an die man sich halten oder durch die man sich schützen kann. Wir mussten gemeinsam eine Form finden, in der es möglich wird, sich zu zeigen, sich nicht zu verkleiden, sich zu präsentieren.
Und es ist einfach toll zu sehen, wie die jungen Darstellerinnen und Darsteller sich das Stück angeeignet haben und wie sie jetzt dastehen in ihrer ganzen Ernsthaftigkeit und Souveränität und wie sie sich anschauen lassen und uns teilhaben lassen an ihrer Persönlichkeit. Wie sie in der ganzen Inszenierung deutlich machen, dass sie uns ein ernst zu nehmendes und spannendes Gegenüber sind.

Express: Wie kamt ihr an die jungen Darstellerinnen und Darsteller?
Anna Krauß: Wir haben bei verschiedenen Schulen angefragt, weil wir gerne wollten, dass sich die Kinder und Jugendlichen zum Teil schon kennen. Bei der Steinmühle sind wir dann auf offene Ohren und Sinne gestoßen. Von dort kommen jetzt zehn, die anderen beiden haben sich von sich aus gemeldet.

Express: Die Gruppe besteht aus zehn Mädchen und zwei Jungs, das ist nicht unbedingt repräsentativ ...
Rolf Michenfelder: Nicht unbedingt, ja, aber in mancher Hinsicht dann doch.

german stage service: "Dass nach dem Tag die Nacht kommt"
Von Tim Etchells
Inszenierung: Anna Krauß und Rolf Michenfelder
Premiere Freitag 18.11. 20.00, Theater im G-Werk, Marburg

Interview: Michael Arlt