Thema der Woche | 6. Oktober 2011

"Jahrhundertdokument"

Die Kriegstagebücher eines Justizinspektors aus Laubach geben einen neuen Einblick in den NS-Alltag

Für Markus Roth von der Gießener Arbeitsstelle für Holocaustliteratur ist es ein "Jahrhundertdokument": Von 1939 bis 1945 schrieb der Laubacher Justizinspektor Friedrich Kellner ein Tagebuch. In zehn Kladden zeigt der einfache Beamte aus der hessischen Provinz, dass auch normale Bürger mehr von den Verbrechen der Nationalsozialisten hätten wissen können - "zumindest, wenn sie sich ein kritisches Bewusstsein bewahrt hätten", so Mitherausgeber Roth. Jetzt wurden die Tagebücher unter dem Titel "Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne" ediert und veröffentlicht.

Der in Vaihingen geborene und in Mainz aufgewachsene Bäckersohn Friedrich Kellner (1885-1970) hatte sich bereits während der Weimarer Republik bei den Sozialdemokraten und gegen die Nationalsozialisten engagiert. 1933 zog er mit Ehefrau Pauline und Sohn Fritz nach Laubach, wo er im Amtsgericht arbeitete.

Den Grund für seine säuberlichen Eintragungen nennt er gleich auf der ersten Seite: Er will der Nachwelt die ungeschminkte Wahrheit hinterlassen, damit eine spätere Zeit daraus keine "heroische Zeit" konstruiert. Fast täglich schreibt er mit blauer Tinte in gestochen klarer Schrift in die Bücher und macht seinem Hass auf die Nationalsozialisten und seinem Zorn über die Mitmenschen Luft. Das "primitive Denken des deutschen Volkes" habe einen "Grad erreicht, der schlechterdings nicht mehr zu überbieten" sei, schreibt er. "Volk ohne Hirn" notiert er in Abwandlung der NS-Parole vom "Volk ohne Raum".

Markus Roth bezeichnet Kellner als Regimegegner, nicht als Widerstandskämpfer. Seine kritische Haltung sorgte zwar dafür, dass er nicht befördert wurde. Die örtliche NSDAP dachte auch darüber nach, ihn ins KZ zu schicken. Er konnte sich jedoch bis 1945 als Justizinspektor von Laubach halten. Seine Arbeit, über die der Leser kaum etwas erfährt, machte er offenbar tadellos. Einem Parteieintritt verweigert er sich. Wäre das Tagebuch in die falschen Hände geraten, hätte ihm jedoch die Todesstrafe gedroht.

In den mit fast 700 Zeitungsartikeln, Fotos und Zeichnungen gespickten Büchern entwickelt er eine eigene Technik, um die NS-Propaganda zu entlarven. Er las mehrere Zeitungen so genau und so kritisch, dass er die Wahrheit hinter den Vernebelungen relativ genau aufspürt. Da die eigenen Kriegsverluste verschwiegen werden, stellt er eigene Berechnungen anhand von hochgerechneten Todesanzeigen an. Manchmal stellt er auch einfach nur Fragen. Etwa, als im September 1942 in einem Artikel die Rede davon ist, dass 65 000 Juden "in Transporten abgeschoben" würden.Lakonisch schreibt er an den Rand: "Wohin?"

Aufmerksam notiert er auch, was die Menschen in seiner Umgebung erzählen. So berichtete ein Soldat auf Heimaturlaub im Oktober 1941, dass er gesehen habe, wie jüdische Männer und Frauen nackt vor eine Grube getrieben und auf Befehl der SS von hinten erschossen wurden. Als auch Juden aus Laubach deportiert werden, schreibt er: "Solche Schandtaten werden nie aus dem Buche der Menschheit getilgt werden können."

Der Nationalsozialismus müsse "mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden", notiert er kurz vor Kriegsende. Zufrieden mit der Entwicklung nach 1945 war er nicht. Er gehörte zwar zu den Mitbegründern der Laubacher SPD, engagierte sich im Stadtrat, im Karnevalsverein und war eine Zeitlang stellvertretender Bürgermeister von Laubach. Doch er war enttäuscht und verbittert darüber, dass NS-Täter bald wieder in Verwaltung, Politik und Justiz auftauchten.

Dass die Tagebücher nun editiert werden konnten, hat die Arbeitsstelle Holocaustliteratur abenteuerlichen Umwegen zu verdanken. Sie fanden sich nämlich 8390 Kilometer entfernt bei Kellners in den USA lebendem Enkel Robert Scott. Friedrich Kellner hatte sie ihm kurz vor seinem Tod mit der Bitte anvertraut, sie zu veröffentlichen. Der Enkel, ein Wissenschaftler aus Texas, konnte sich dem Vorhaben erst nach seiner Pensionierung widmen. Bei einer Ausstellung in den USA wurden die Bücher zum 60. Jahrestag des Kriegsendes präsentiert. Eine kurze Notiz in einem deutschen Magazin brachte auch die Mitarbeiter der Arbeitsstelle auf den Plan, von denen zwei ausgerechnet aus Laubach stammten. Sie schafften es sogar, das erste als verschollen geltende Tagebuch zu finden. Es lag bei einem ehemaligen Auszubildenden und langjährigen Freund Kellners in Villingen.

Friedrich Kellner: "Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne". Tagebücher 1939-1945. Herausgegeben von Sascha Feuchert, Robert Martin Scott Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Riecke und Markus Roth. Wallstein Verlag.

Gesa Coordes

Thema der Woche | 6. Oktober 2011

Poetischer Ballzauber

Das Wortsportfestival vom 10. bis 12. Oktober verbindet Sport und Poesie

Er ist die offizielle Nationalmannschaft des Poetry Slams: Der FK Inter Slam 09 besteht aus 20 Poeten aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz. Unterder Leitung von Nationaltrainer Lars Ruppel, kommt der FK Inter Slam 09 nun zum ersten Wortsportfestival nach Hessen. Vom 10. bis 12. Oktober trainieren die Poeten auf dem Sportplatz der Afföllerwiesen Marburg und performen abends ihre Texte. Im Zentrum steht das Testspiel gegen die "Hot Guys in Black Pömps" der Bunten Liga Marburg am 11. Oktober um 15:30 Uhr auf dem SportplatzAfföllerwiesen. Zu Gast beim Festival sind weitbekannte Poeten wie die Schweizer Gabriel Vetter, Renato Kaiser und Laurin Buser, der deutsche Meister Patrick Salmen, die Slam Legende Frank Klötgen, Sebastian23, Schriftstehler, Nico Spindler und Clara Nielsen.

Sportlich wie poetisch darf man einiges erwarten. Wobei dem Team der Bunten Liga Marburg wohl die Favoritenrolle zukommt. Konnten doch die Spieler des FK Inter Slam 09 bisher poetisch weitaus mehr denn sportlich überzeugen: 2009 endete die in Literaturkreisen viel beachtete Partie gegen die "Autonama", die deutsche Autorennationalmannschaft, mit einer desaströsen 2:10-Niederlage für die Poetry Slammer. Wobei die besseren Fan-Gesänge auf Seiten des FK Inter Slam gewesen sein sollen ...

Das Programm:
Sonntag, 9. Oktober, 18:00 Uhr: Pressekonferenz mit Appell an den DFB. Zu Gast: Nationaltrainer Lars Ruppel, Kapitän Bleu Broode, Teamchef Markim Pause und Frauenbeauftragte Clara Nielsen
Montag, 10. Oktober, 20:00 Uhr: Show im English Theatre Frankfurt.
Dienstag, 11. Oktober Afföllerplatz, 15:30 Uhr: öffentliches Testspiel gegen die "Hot Guys in Black Pömps", 20:00 Uhr Show im KFZ Marburg.
Mittwoch, 12. Oktober, 20:00 Uhr: Show im Jokus Giessen.
Mehr Infos unter www.slammarburg.de

red

Thema der Woche | 6. Oktober 2011

Neue Perspektiven

Virtueller Spaziergang durch Marburg mit dreidimensionalen Panoramabildern

Marburg ist eine moderne Universitätsstadt mit viel Geschichte und beeindruckenden Sehenswürdigkeiten. Die Elisabethkirche, das Landgrafenschloss oder die Altstadt mit dem Rathaus zählen zu den beliebten Zielen der jährlich vielen Tausend Besucher. Aber auch das moderne Marburg hat viel zu bieten: Das Stadtfest "3 Tage Marburg", OpenAir-Kino auf der Schlossparkbühne, die moderne Kunsthalle oder Marburg b(u)y Night sind nur wenige Highlights, die zeigen, dass Tourismus, Kultur und Geschichte sich in Marburg immer wechselseitig beflügelt haben.

Bisher existierte allerdings nur eine interaktive Stadtkarte, auf der bebilderte und betextete Sehenswürdigkeiten auftauchen, wenn man sie mit der Maus ansteuert. Künftig kann man sich auf fünf virtuelle Haupttouren durch Marburg begeben, die zu rund 60 verschiedenen Marburger Orten, Plätzen, Sehenswürdigkeiten und Bauwerken führen. Sogar die nicht für die Öffentlichkeit zugängliche Aula der Alten Universität, das "Michelchen", die Aussicht vom Kaiser-Wilhelm-Turm oder eine Fahrt auf dem Lahnschiff Elisabeth II kann man mit zum Teil atemberaubenden Rundumblicken in Außen- und Innenansichten erleben, ebenso wie Lahnufer, Oberstadt, Schloss, Elisabeth-Kirche. Möglich wird das durch interaktive dreidimensionale Panoramabilder, die einen 360-Grad-Blick erlauben.

Zwei Modi kann der virtuelle Stadtrundgänger dabei nutzen: Der Film-Modus spielt die Panoramen automatisch hintereinander in einer vollständigen horizontalen 360-Grad-Drehung ab. Im Interaktionsmodus hat der Nutzer zahlreiche erweiterte Bewegungsmöglichkeiten. Er kann sich mittels Mausklick oder einem Steuerkreuz innerhalb einer Tour bewegen, in eine andere Tour wechseln, in eine Ansicht hinein- oder herauszoomen, sich Bildergalerien anschauen und Textinformationen zu den Sehenswürdigkeiten anzeigen lassen und vieles mehr.

Im Vollbildmodus kommt bei Marburg-Fans sicher auch hier und da Gänsehautgefühl auf, wenn man sich mit einfacher Maus- oder Tastatursteuerung auf dem historischen Marktplatz oder im Schlossbereich umschauen kann", sagt der Geschäftsführer der Marburg Tourismus und Markting GmbH, Klaus Hövel.

www.marburg.de

red