Express: Die Wahlbeteiligungen beispielsweise bei der letzten Bundestagswahl oder der letzten hessischen Kommunalwahl erreichen historische Tiefstände. Stattdessen gehen immer mehr Bürger direkt auf die Straße, machen gegen Großprojekte wie Stuttgart 21 Front. Läuft in unserer Demokratie was falsch?
Boris Palmer: Wir sind mit den Verwaltungsverfahren und Genehmigungsprozessen im letzten Jahrhundert stehengeblieben, da gab es kein Internet und Bürgerinitiativen galten lange als linksalternative Erscheinungen.
Wir leben aber im 21. Jahrhundert: Originalakten sind über das Internet für alle einsehbar. Der Anspruch mitzubestimmen, hat auch gutbürgerliche und konservative Kreise erfasst. Über "Stuttgart 21" sind die Bürgerinnen und Bürger beispielsweise außergewöhnlich gut informiert. Deshalb fallen ihnen die Widersprüche bei dem Projekt auf, die sie nicht akzeptieren wollen.
In unserer heutigen Informationsgesellschaft sind die Zeiten endgültig vorbei, dass man über die Köpfe der Leute Entscheidungen treffen kann und einfach sagt, "das versteht ihr nicht". Darauf müssen Politik und Verwaltungen endlich neue Antworten finden.
Express: Geben Sie doch mal ein paar Antworten: Wie kann die Politik besser Großprojekte wie Stuttgart 21 steuern?
Boris Palmer: Tatsächlich steht das Ergebnis von Planfeststellungsverfahren für solche Projekte normalerweise am Anfang fest und nicht am Ende. So ist das bei uns seit Jahrzehnten üblich. Deshalb wird so gut wie immer die Trasse realisiert, die im Genehmigungsverfahren ursprünglich vorgeschlagen wurde und nicht die Alternative, die von Bürgern in den Planungsprozess eingebracht wird. Das ist das Problem.
Wir müssen dahin kommen, dass Alternativplanungen von Bürgern zu Beginn eines Genehmigungsverfahrens gleichrangig abgewogen werden. Bisher werden die eher "weggewogen", das heißt, dass die Hindernisse der Bürger für die Wunschtrasse beiseite geschafft werden. Dabei wird oftmals auch sehr "kreativ" mit Zahlen umgegangen. Und das haben die Leute in Stuttgart aber gemerkt, die haben nämlich nachgerechnet.
Express: Wie kann eine stärkere Bürgerbeteiligung ganz konkret umgesetzt werden?
Boris Palmer: Das erfordert erstens eine andere politische Kultur. Das bedeutet nämlich, dass Kritik nicht nur niedergestimmt wird, sondern dass sich ernsthaft damit auseinandergesetzt wird. Das ist leider bisher keine Stärke unserer Parlamente. Im Regelfall wird nach Fraktionen abgestimmt und nicht nach Argumenten.
Außerdem muss es andere Planungsverfahren geben. Die müssen sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Es darf nicht mehr am Anfang festgelegt werden, was man baut und anschließend sammelt man die Argumente zusammen, die das rechtfertigen.
Man sollte bitteschön am Anfang die Argumente gegenüberstellen und dann in einem offenen Prozess nach der besten Lösung suchen. Das kann bei großen Projekten wie in der Schweiz mit obligatorischen Bürgerentscheiden verbunden werden.
Express: Sollte es generell mehr Bürgerentscheide geben, mehr direkte Demokratie?
Boris Palmer: Ja, nicht um die repräsentative Demokratie zu ersetzten, sondern als Ergänzung. Und zwar immer dann, wenn Themen so vielen Menschen wichtig sind, dass sie darüber direkt entscheiden wollen.
Express: Was wären klassische Themen für Bürgerentscheide?
Boris Palmer: Die naheliegendsten Beispiele sind auf der kommunalen Ebene: große Investitionsvorhaben wie Straßen oder Hallen, etc. Um solche Bauprojekte gibt es erfahrungsgemäß die größten Diskussionen. Da ist es auch berechtigt, wenn die Stadtgesellschaft sagt, "wir wollen selbst entscheiden und nicht nur alle fünf Jahre zur Wahl gehen". Bei Bauprojekten geht es auch am leichtesten, weil die Folgen für alle überschaubar sind.
Schwieriger ist es auf Landes- und Bundesebene. Da muss man auf jeden Fall festhalten, dass die Verfassung auch für das Volk gilt. Da gibt es klare Grenzen, die ich für wichtig halte. Also: Es ist nicht zulässig, in die Religionsfreiheit einzugreifen und beispielsweise Minarette zu verbieten. Das unterscheidet uns von der Schweiz.
Express: Wie hoch oder niedrig sollten die Hürden sein, um einen Bürgerentscheid durchführen zu können?
Boris Palmer: Der Maßstab ist die Zahl der Menschen, die das Thema bewegt. Konkret: Wenn sich bei einer Unterschriftensammlung zehn Prozent der Bürger für eine Volksabstimmung aussprechen, ist das meines Erachtens ein guter Wert. Das würde bedeuten, dass nicht bei jedem kleinen Thema eine Volksabstimmung eingeleitet werden kann, sondern nur bei Themen, die auch Hunderttausende bewegen.
Interview: Georg Kronenberg