An das Gedicht über die Grille denkt der ehemalige Nationaltorhüter Sepp Maier immer beim Rasenmähen. Fernsehkoch Tim Mälzer bevorzugt Lyrik über wilde Kannibalen. Und Schauspieler Jan Fedder lieferte die kürzeste Begründung für sein Lieblingsgedicht: "Sagt alles über das Leben aus", schrieb er über Ringelnatz' Ameisen aus Hamburg.
Elf Marburger Studierende haben ein ungewöhnliches Buch herausgebracht: "Mein Lieblingsgedicht", lautet der Titel des Bandes, von dem bereits 10.000 Exemplare verkauft wurden. Im Rahmen eines Literaturseminars der Marburger Philipps-Universität fragten sie Prominente nach ihren bevorzugten Versen. 350 schrieben sie an. 45 antworteten. Der Erlös des Buches kommt einem Bildungs- und Alphabetisierungsprojekt für benachteiligte Jugendliche der Frankfurt Book Fair Literacy Campaign zugute.
Ein wahres Abenteuer" sei das von der irischen Anthologie "Lifelines" inspirierte Projekt gewesen, erzählt Seminarleiterin Erika Schellenberger-Diederich. Einen "Schnellkurs in Projektmanagement und Teamarbeit" nennt es Literaturstudent Fabian Sandelmann. Schließlich musste die Gruppe Hunderte von Briefen und Mails schreiben und oft nachhaken, um die Prominenten zum Mitmachen zu bewegen. Immerhin gab es spontane Zusagen des Journalisten Ulrich Wickert und des Schriftstellers Peter Härtling, der das Vorwort schrieb. Dass er keine Lyrik liest, mochte übrigens keiner der 350 Angeschriebenen einräumen. Absagen wurden meist mit Zeitmangel begründet.
Das war ein Seminar mit experimentellem Charakter und ungewissem Ausgang", fasst Schellenberg-Diederich zusammen: "Es war nicht klar, ob wir überhaupt das Manuskript zusammenkriegen." Beeindruckt war die Dozentin vom Engagement der Studierenden, die in unzähligen Redaktionssitzungen selbst in den Semesterferien "phänomenal zuverlässig" mitgearbeitet hätten.
In zwei Semestern haben sie eine beeindruckende Sammlung mit literarischen Visitenkarten von Menschen aus Kultur, Politik und Sport zusammengetragen. Die Studierenden gewannen Prominente wie Entertainer Alfred Biolek, Kinder-Liedermacher Rolf Zuckowski, Schauspielerin Mariele Millowitsch, Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg, Gesundheitsminister Philipp Rösler, SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, Schriftsteller Adolf Muschg,Literaturkritikerin Elke Heidenreich und Astronaut Ulf Merbold.
Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker wählte Schillers Handschuh, mit dem er als Sechsjähriger vergeblich um die Zuneigung einer älteren Mitschülerin geworben hatte. Bei BAP-Musiker Wolfgang Niedecken hängen Bertolt Brechts "Fragen eines lesenden Arbeiters" an der Wand: "Es erinnert mich immer wieder daran, wo ich herkomme", erklärteNiedecken den Studierenden. Nachrichtensprecherin Gundula Gause bevorzugt ein Gedicht über das Glück, weil sie sonst eigentlich immer nur schlechte Nachrichten präsentieren müsse.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble liebt Hanns Dieter Hüschs "Psalm 126", den ihm der Pfarrer seiner Heimatgemeinde bei seinem Amtsantritt zukommen ließ. Darin nimmt der Kabarettist allerdings nicht die Politiker aufs Korn, sondern schildert, was ihn fröhlich macht. Das Gedicht spende Trost und mache stark, wo man schwach sei, schrieb Schäuble dazu. Altbundeskanzler Helmut Schmidt setzt lieber auf Frosts "Rast am Wald an einem verschneiten Abend". Die Verse handeln von tiefer Erschöpfung und von Verantwortung. Besonders zu Herzen gehen Schmidt die letzten Zeilen: "I have promises to keep". Was er versprochen habe, müsse er halten.
Unterdessen ist das Herausgeberteam stolz, bereits während des Studiums das erste Buch vorgelegt zu haben. Bei einer Lesung in Marburg sind sie bereits aufgetreten. Weitere Lesungen in Buchhandlungen sind geplant.
Erika Schellenberger-Diederich: Mein Lieblingsgedicht. Prominente antworten. Beck-Verlag. ISBN 978-3-406-60607-6. 128 Seiten.