Die Spielstraße im Marburger Stadtwald ist schon seit Tagen verwaist. Seit die Familien in den schmucken Reihenhäuschen wissen, wer auf der anderen Straßenseite eingezogen ist, lassen sie ihre Kinder kaum noch auf die gepflasterte Gasse: Dort wohnen zwei Schwerverbrecher, die nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes aus der Sicherungsverwahrung in Hessen entlassen wurden ein 57-Jähriger, der eine Zwölfjährige missbraucht hat, und ein 53-Jähriger, der wegen versuchen Raubmords hinter Gittern saß.
Die Rollläden der direkten Nachbarn sind herunter gelassen. Von ihren Fenstern aus kann sie die entlassenen Gewalttäter öfter auf der Terrasse sitzen sehen, erzählt Pia F. Sich selbst im Garten zu sonnen, traut sie sich schon lange nicht mehr. Auch die drei Kinder ihrer Nachbarin spielen nicht mehr im Sandkasten. Die achtjährige Tochter hat neuerdings ein Handy, damit sie jederzeit erreichbar ist. Sie wird jetzt täglich von der Schule abgeholt, weil einer der Straftäter manchmal mit dem Schulbus in die Stadt fährt. "Das ist gruselig", sagt ihre Mutter.
Eine Straße weiter wohnt der stellvertretende Ortsvorsteher Matthias Simon: "Wir sind jetzt gefangen mit unseren Familien", sagt der dreifache Vater. Im direkt angrenzenden Wald herumzustromern, hat er seinen Kindern verboten. Sie dürfen nur noch mit Erwachsenen oder zu dritt aus dem Haus.
Dass die entlassenen Straftäter ausreichend bewacht werden, glauben die Menschen im Stadtwald nicht. "Hier sieht man höchstens mal abends einen Polizeiwagen", sagt Pia F. "Für die Anwohner ist dieser Zustand eine Katastrophe", meint der Vorsitzende des Stadtteilvereins, Günter Nitsch: "Uns begleitet eine permanente Angst."
Wie das "engmaschige Sicherheitsnetz" genau aussieht, verrät die Polizei nicht. Nur so viel: Die Entlassenen müssen sich regelmäßig bei der Polizei melden, sich mit ihren Bewährungshelfern treffen und werden offen und verdeckt beobachtet: "Allerdings nicht rund um die Uhr und nicht jeden Tag", sagt Polizeisprecher Martin Ahlich auf Nachfrage. Die Beobachtung werde bei Auffälligkeiten intensiviert. Bislang habe es jedoch keine Probleme gegeben.
Den Anwohnern reicht das nicht. Bislang gab es im Stadtwald noch keine Demonstrationen wie in Hamburg, wo ein Sexualstraftäter wegen massiver Proteste schon dreimal umziehen musste. Nur eine Resolution haben die Bürger verfasst, damit die Gewalttäter so schnell wie möglich wieder verschwinden. "Wir verstehen nicht, wie man diese Leute ausgerechnet hier unterbringen konnte", sagt Matthias Simon vom Ortsbeirat. Der auf dem ehemaligen Bundeswehrgelände entstandene Stadtwald ist der kinderreichste Stadtteil Marburgs. Die Unterkunft der Straftäter liegt in unmittelbarer Nähe eines Spielplatzes, einer Schule, eines Kindergartens und einer Jugendlichen-Wohngruppe.
Wir hätten den Stadtwald nicht ausgesucht", betont der Marburger Oberbürgermeister Egon Vaupel. Die Stadt habe aber keine Unterkunft anbieten können, weil sie dafür nur wenige Tage Zeit hatte. Daraufhin seien die Betroffenen von den Sozialbehörden der Justizvollzugsanstalt privat untergebracht worden allerdings nur vorübergehend, wie Vaupel betont. Die Stadt sucht weiter nach einer Bleibe. Das ist aber schwierig, weil es kaum einen Ort in Marburg gibt, der nicht in der Nähe einer Schule oder eines Kindergartens liegt.
Im übrigen können die Freigelassenen ohnehin selbst entscheiden, wo sie wohnen. Deshalb landeten sie auf eigenen Wunsch in Marburg ebenso wie ein dritter Sexualstraftäter, der an einem unbekannten Ort in der Stadt lebt. Sie könnten aber auch ihre Wohnung selbst auswählen. "Das sind freie Menschen mit dem Recht auf freie Wohnungswahl", erklärt Landgerichtspräsident Christoph Ullrich.
Die Straftäter waren so lange in Sicherungsverwahrung, weil sie immer noch als gefährlich gelten. Was dies bedeutet, ist allerdings unklar. OB Vaupel kann nur sagen, dass ihre Sozialprognose nicht gut ist. Sie sollen aber keine "Überfalltäter" sondern "Beziehungstäter" sein. Deswegen macht sich Hans Werner, Geschäftsführer der am Ende der Straße gelegenen Freien Schule, bislang noch wenig Sorgen: "Nach unseren Informationen wohnt da niemand, der Kindern hinter den Büschen auflauert." Im übrigen wären die Straftäter ja normalerweise schon vor Jahren einfach freigelassen worden dann hätte nur niemand gewusst, wo sie leben.
Deswegen spricht auch Rechtsanwalt Bernhard Schroer von einer "überflüssigen Hysterie". Der Jurist hat für den 53-jährigen Räuber die Aufhebung der Sicherungsverwahrung vor dem Europäischen Gerichtshof durchgefochten. "Damit ist nur die Rechtslage wieder hergestellt worden, wie sie bis 1998 galt", betont er. Die Aufregung erklärt sich Schroer mit einem überzogenen Sicherheitsdenken. Schließlich lebten im Stadtwald auch andere Straftäter. Schroer: "Es ist nicht so, dass jetzt plötzlich die Hölle aufgemacht wurde und es kommen viele Teufel heraus. Es ist nur die alte Rechtslage wieder in Kraft."
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