Frenetischer Jubel ertönt, als Thomas Gottschalk Marburg als Gewinner der TV-Show "Deutschland sucht die Super-Mondstadt" ausruft. Weshalb ausgerechnet Marburg in die Endausscheidung kam, fragen sich selbst die Experten. Schließlich ist die Zahl deutscher Städte, die man manchmal auf den Mond schießen könnte, nicht gerade klein. Berlin und Gießen zum Beispiel. Doch auch Castrop-Rauxel und Paderborn waren im Gespräch. Letztendlich haben die psychischen Anforderungen an die Bewohner einer Mondstation die ausschlaggebende Rolle gespielt. Und da hatte Marburg als in sich geschlossener Mikrokosmos die Nase vorn.
Schon wenige Tage nach der Auslosung beginnen die Vorbereitungen. Wie bereits einige Jahre zuvor beim Ausflug in die Südsee muss Marburg zunächst vom hessischen Mutterboden getrennt werden. Hunderte von Stahlseilen werden unter der Stadt hindurchgezogen, und acht gigantische Zeppeline heben den Erdklumpen heraus, um ihn passgenau in einen großen, titanlegierten Metallkübel zu setzen. Mit dem Metallkübel fliegen die Zeppeline dann ins russische Weltraumzentrum Krasnosnamensk, wo eine große Käseglocke aus hitzebeständigem Glas über Marburg gestülpt wird. Bevor sie hermetisch verriegelt wird, hat jeder die Gelegenheit, sich von den zurückbleibenden Freunden und Verwandten zu verabschieden.
Dann ist es endlich soweit. Basierend auf einer neuen Technologie, wurde auf dem Mond eine gigantische Seilwinde errichtet, deren Stahlseil über eine Strecke von 384.000 Kilometern bis zur Erde reicht und dort am obersten Ende der Glaskuppel an einem Haken befestigt werden soll. Wegen der Drehung des Mondes um die Erde gibt es aber nur einmal am Tag die Möglichkeit, das Stahlseil zu erwischen und schnell an der Glaskuppel zu befestigen. Doch schon beim ersten Versuch kann der Anker in den Haken an der Glaskuppel eingeklinkt werden, und mit einem Ruck hebt Marburg ab.
Weil wir bald das Gravitationsfeld der Erde verlassen, sind alle furchtbar aufgeregt. Damit wir beim Eintritt in die Schwerelosigkeit nicht vom Boden abheben und durch die Glaskuppel schweben, hat jeder seine Magnetschuhe angezogen. Da die Reise zum Mond aber noch lange dauert, entspannen wir uns erst mal im Café Roter Stern bei einer Schnabeltasse Milchkaffee. Natürlich werden alle Getränke nur noch in Schnabeltassen ausgegeben, damit in der Schwerelosigkeit keine Sauerei entsteht. Selbst die Obdachlosen am Rudolphsplatz dürfen ihr Bier nur noch aus Schnabelflaschen schlürfen.
Als wenig später die Schwerelosigkeit einsetzt zeigt sich, wie gut sich die Marburger vorbereitet haben, denn alle beweglichen Gegenstände wurden mit doppelseitigem Klebeband am Boden befestigt. Leider hat man in der Aufregung einige Gegenstände vergessen. Im Café Roter Stern betrifft das die Kaffeemaschine und eine Topfpflanze. Beide tanzen schwerelos im Raum, und das Personal muss über die Tische steigen, um sie wieder einzufangen. Vorerst wird es wohl keinen Kaffee mehr geben. Was aber auch nicht schlimm ist, weil wir ohnehin vorhatten, auf Bier umzusteigen.
Wir nehmen unsere gefüllten Schnabelflaschen und gehen hinaus auf die autofreie Straße. Während wir in Richtung Oberstadt laufen, fällt uns auf, dass bei der großen Klebeaktion eine ganze Menge Gegenstände vergessen wurden. Hundekacke zum Beispiel. Doch nicht nur das, auch Menschen schweben durch die Luft. Unglücklicherweise haben die Buddhisten aus dem Shambala-Zentrum beim Meditieren ihre Magnetschuhe ausgezogen und sind beim Verlassen der Erdatmosphäre gleich abgehoben. Das Aufsichtspersonal verfolgt jetzt die Buddhisten in kleinen Raumgleitern durch die Glaskuppel und sammelt sie wieder ein.
Als sich die Aufregung über die Schwerelosigkeit gelegt hat, läuft der Unibetrieb wieder an, und jeder geht wieder seiner Beschäftigung nach. Doch je weiter sich Marburg von der Erde entfernt, umso drängender wird die Frage, was wir auf dem Mond verloren haben. So stehen wir in unserer Freizeit an der Glaskuppel, spielen Gitarre, schauen in die Weite des Weltalls hinaus und bekommen Heimweh.
Die Unzufriedenheit wird immer größer, die Leute auf der Straße begrüßen sich mit "Fuck the moon", und es gibt heftige Streitereien mit dem Flugkapitän "Kirk" - der eigentlich gar nicht so heißt, aber er ärgert sich immer so schön, wenn man ihn "Captain Kirk" nennt. Am 60. Tag der Mondreise beschließen die Marburger auf einer subversiven Versammlung mehrheitlich, wieder zur Erde zurückzufliegen. Doch die gesamte Welt protestiert heftig gegen unseren Rückkehrwunsch, denn als Gewinner der TV-Show "Deutschland sucht die Super-Mondstadt" habe Marburg sich verpflichtet, definitiv auf dem Mond zu landen. Vor allem die Stadt Gießen besteht am nachdrücklichsten darauf, dass Marburg nicht zur Erde zurückkehrt.
Doch in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gelingt es ein paar Demonstranten, den Befestigungsbolzen für die Seilwinde am oberen Ende der Glaskuppel zu lösen. Was allerdings keine gute Idee war, weil Marburg jetzt nicht mehr gesteuert werden kann und Gefahr läuft, in den Weiten des Weltalls verloren zu gehen. Orientierungslos taumelt Marburg wie ein Irrlicht durch den Weltraum, und Captain Kirk versucht mit Hilfe von Steuerdüsen die Stadt in eine erdnahe Umlaufbahn zu bringen. Auf diese Weise gelangen wir zwar nicht zur Erde zurück, aber wir sind gerettet. Und das ist schon mal ein Grund zum Feiern. Also ziehen wir alle unsere Magnetschuhe aus, fliegen kreuz und quer durch die Glaskuppel und fangen an zu tanzen und Völkerball zu spielen.
Wenige Wochen später wird eine regelmäßige Space-Shuttle-Fluglinie eingerichtet, und jeder, der will, kann auf die Erde zurück. Umgekehrt bringt der Space-Shuttle jede Woche neugierige Touristen, die sich für ein paar Wochen in den Fachwerkhäusern der Oberstadt einquartieren und Weltraum-Urlaub machen. Ein wenig leidet der Unibetrieb darunter, doch wenn man einen Marburger fragt, ob er wieder auf die Erde zurück möchte, schüttelt er nur den Kopf.
Die Kurzgeschichte "Raumstation Marburg" ist ein Auszug aus dem gleichnamigen Buch von Christoph Kirschenmann, dem Initiator der Lesebühne Cavete Late-Night-Lesen und Marburgs derzeit wohl bekanntestem Lesebühnenautor. Sein Buch "Raumstation Marburg" und die Hörbuch-CD "Marburg Südsee" ist in allen Marburger Buchläden und dem Kaufhaus Ahrens erhältlich.
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