Express Online: Thema der Woche | 26. November 2009

Das Studium als Hindernisparcours

Blockaden, Nachtständchen und Forderungslisten: Szenen aus dem Bildungsstreik an der Gießener Uni

Mutti Merkel, Mutti Merkel, schläfst du noch? Hörst du uns nicht rufen? Bildungstod! Bildungstod!" Der vom Streikchor kurz vorgetragene Kanon gegen miese Studienbedingungen wird heftig beklatscht im Audimax der Gießener Uni. Knapp hundert Studierende sind am Montagabend zu dem täglich stattfindendem großen Protest-Plenum gekommen, diskutieren die anstehenden Streikaktionen und ziehen Bilanz. "Mein letzter Stand ist, dass bundesweit 57 Unis streiken. Ich finde das ziemlich cool!", berichtet eine Studentin unter Applaus "Wir sind nicht allein!"

In Gießen sind gut eine Woche nach Beginn des Bildungsstreiks fast alle Gebäude im Philosophikum II besetzt, seit Sonntag außerdem Teile des Philosophikums I blockiert. Und die Protestaktionen gewinnen weiter an Fahrt, auch an der Fachhochschule und bei den Gießener Naturwissenschaften: "Wir haben einen Hindernisparcours zum Thema 'schwierige Studienbedingungen' aufgebaut, um noch mehr Kommilitonen zu sensibilisieren und zum Mitmachen zu gewinnen", berichtet ein Naturwissenschafts-Student am Montag im Plenum.

Seit der mit rund 1.200 Teilnehmern überfüllten Uni-Vollversammlung Mitte vergangener Woche haben die Studenten mit einem Flashmob in der Innenstadt, einer Spontan-Demo und etlichen weiteren Aktionen auf ihre missliche Situation aufmerksam gemacht. Es gibt alternative Seminarangebote, beispielsweise zu "solidarischer Ökonomie", ein allabendliches Protestkino und eine regelmäßige Jam-Session der Protestler. Außerdem ist der Streik-Chor der Musikwissenschaftler mehrmals täglich unterwegs. So haben erst kurz vor Beginn der Sitzung im Audimax rund 30 Studierende vor dem nahe der Uni gelegenen Haus von Hessens Innenminister Volker Bouffier ein Nachtständchen angestimmt. "Der Protest ist echt überfällig", freut sich Chor-Sängerin Anna, die aus Brandenburg zum Musikwissenschafts-Studium nach Mittelhessen gekommen ist: "Mit dem Vor- und Nachbereiten der Seminare habe ich eine 60-Stunden-Woche an der Uni und muss an zwei Tagen arbeiten, um einen Teil meines Lebensunterhalts zu verdienen. Das ist sauanstrengend. Da sitzt man oft müde im Seminar", klagt die 21-Jährige.

Der enge Zeitplan des Bachelor-Studiums lasse keinen Raum, "um sich wirklich mit den Seminarinhalten auseinanderzusetzen", ärgert sich auch ihre Nachbarin Katharina, 23. Zudem habe sie bei der Arbeitsüberlastung des sehr theoretisch ausgelegten Gießener Musikpädagogik-Studiums kaum Luft, "um neben dem Studium ein Instrument zu lernen".

Während im großen Plenum am Montagabend über öffentlichkeitswirksame Aktionen in den nächsten Tagen gesprochen wird, formulieren parallel dazu in den besetzten Häusern Mitglieder von Arbeitsgruppen einen Forderungskatalog an die Unileitung, Hessens Wissenschaftsministerium und nicht zuletzt Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) aus: "Die ,Gießener Erklärung' soll auf der nächsten Uni-Vollversammlung am Mittwoch zur Abstimmung gestellt werden", berichtet Matthias Nieke von der Presse-Arbeitsgruppe der Studierenden. Inhalte seien unter anderem die Forderung nach der Möglichkeit zu selbstbestimmtem Lernen, einer Reform der Bachelor- und Masterstudiengänge, ausreichend Master-Plätzen für alle Studierenden, gebührenfreier Bildung, der Abschaffung der Verwaltungsgebühr, mehr und besser ausgebildete Dozenten sowie einer stärkeren Demokratisierung der Universität.

Dazu kommen laut Nieke ganz konkrete Forderungen zur Verbesserung der Studienbedingungen an der Gießener Uni, die bis hinab zur Seminarebene reichen. Nieke: "Diese Breite und Tiefe an Inhalten konnte nur durch die Beteiligung von vielen Studierenden aller Fachbereiche, Studiengängen und Semestern erreicht werden."

Um auf ihren Bildungsstreik hinzuweisen, haben die Studierenden für Donnerstag, 26.11., ab 13.00 Uhr in der Gießener Innenstadt verschiedene Performances sowie Mitmach-Aktionen rund um das Thema Bildung geplant. Solange die Besetzungen andauern, findet allabendlich im Haus D, Phil II um 21.00 Uhr eine Jam-Session statt.

Weitere Infos unter http://protest-giessen.de/ und http://twitter.com/giessenstreikt.

Georg Kronenberg

Express Online: Thema der Woche | 26. November 2009

Eine Frau als Favoritin

Sechs Bewerber konkurrieren um das Uni-Präsidentenamt in Marburg

Erstmals in der Geschichte der ältesten protestantischen Universität könnte eine Frau Präsidentin werden. Die Kunsthistorikerin Katharina Krause (49) gilt als Favoritin im Rennen um das höchste Amt an der Marburger Philipps-Universität. Sechs Kandidaten haben sich mehr als sechs Stunden lang dem Senat der Hochschule vorgestellt. Gewählt wird der Nachfolger für den scheidenden Präsidenten Volker Nienhaus am 30. November.

Krauses schärfster Konkurrent ist der Marburger Chemiedekan Gernot Frenking (63), der sich als "verlängerter Arm der Fachbereiche" empfahl. Als Verfechter der "Bottom-up-Strategie", also einem von der Basis ausgehenden Führungsstil, befürwortet er flache Hierarchien. Dass etwa 100 Studierende im Zuge der bundesweiten Bildungsproteste unlängst das Marburger Audimax besetzten, nannte er indes eine "spontan-theatralische Effekthascherei". Zudem setzt er sich für eine Verbrüderung mit der Universität Gießen ein.

Ein Problem Frenkings ist sein Alter. Der 63-Jährige möchte zwar die volle Amtszeit von sechs Jahren durchhalten. Doch nach dem hessischen Hochschullehrergesetz muss er mit 68 Jahren pensioniert werden. Das Stichwort Gleichstellung ergänzte er denn auch um den Aspekt Altersdiskriminierung. Frenking will sich dafür einsetzen, dass Professoren auch nach der Pensionsgrenze weiterarbeiten dürfen.

Für Krause spricht ihre Erfahrung als Vizepräsidentin. Sowohl Professoren als auch Studierende und Mitarbeiter bescheinigen der 49-Jährigen, dass sie vor allem beim Baumanagement "einen guten Job gemacht" habe, wie es Siegfried Bien, Sprecher der Unabhängigen Hochschullehrer, formuliert. Sowohl bei der Campus-Planung als auch bei den maroden Uni-Bauten habe sie die Hochschule mit Engagement und Erfolg im Ministerium vertreten. Als neue Aufgabe nannte Krause die schnell steigenden Studierendenzahlen, die nicht zu einer Billig-Lehre führen dürften.

Kritik an ihr: Zumindest gegenüber den Professoren soll sie mitunter zu bestimmend aufgetreten sein. Dagegen hat sie Unterstützung bei den Studierenden: "Die Zusammenarbeit mit ihr war angenehm", sagt Asta-Vorsitzende Anna Schreiber: "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sie sich sehr zuverlässig und gewissenhaft um alles kümmert." Auch Monika Lerp als Sprecherin der nicht wissenschaftlichen Mitarbeiter kann die Professoren-Kritik nicht verstehen: "Vielleicht sind es manche Professoren auch nicht gewohnt, dass eine Frau weiß, was sie will."

Während Krause keiner Liste angehört, wird Frenking von der größten Professorenliste der Unabhängigen Hochschullehrer unterstützt. Sie stellen 14 von 34 Senatsmitgliedern.

Für "präsidiabel" hält der Senat aber auch die übrigen vier – von außen kommenden – Bewerber. Chancen werden vor allem dem Historiker Burghart Schmidt gegeben, der beim "Vorsingen" eine gute Figur machte. Der 47-Jährige, der zur Zeit als Vizepräsident an der französischen Universität Montpellier arbeitet, empfahl sich als Experte für die Internationalisierung der Hochschule. Der Experte für Hexenverfolgung lehrte zuvor an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg und hat gute Kontakte zur Europäischen Union.

Weiter stellte sich der Politikwissenschaftler Hans-J. Lietzmann (56) vor. Er hat in Marburg studiert und promoviert, war dann Professor in Hamburg, Vechta, Essen und Berlin. Seit 2002 lehrt er in Wuppertal, wo er auch Dekan war. Der 57-jährige Mathematiker Heinz Siedentop, der an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität unterrichtet, warb mit seiner breiten Erfahrung in europäischen Universitäten. Der Anglist Dieter A. Stein war acht Jahre lang Professor in Gießen, bevor er 1990 an die Universität Düsseldorf wechselte.

Nicht zum "Vorsingen" kam der ehemalige Präsident der FH Worms, Joachim Herzig (60). Er hatte sich am Donnerstag als Bewerber um das Präsidentenamt der Hochschule Darmstadt vorgestellt und sagte ab.

Gesa Coordes

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