Express Online: Thema der Woche | 1. Oktober 2009

Jammertäler, Höhenflüge

Szenen von einem denkwürdigen Wahlabend: Helge Braun (CDU) gewinnt erstmals das Direktmandat in Gießen

Sonntagabend im Kulturrathaus, kurz nach 18 Uhr. Auf dem großen Fernsehschirm im Foyer läuft gerade die erste Wahlprognose – und vor dem Monitor wird es ganz still. Dem kleinen Grüppchen von SPD-Getreuen, die zur öffentlichen Präsentation der lokalen Bundestagswahlergebnisse gekommen sind, ist das Entsetzen über die so unerwartet miserablen Zahlen ins Gesicht geschrieben. Auch Grünen-Direktkandidat Tom Koenigs, der schon früh ins Rathaus gekommen ist, blickt sehr ernst und zieht die Stirn kraus. Selbst die CDU- und FDP-Anhänger sind trotz der deutlichen Prognose zu ihren Gunsten erstaunlich still. Immerhin ein älterer Mann lehnt freudestrahlend an einem Pfeiler und applaudiert überschwänglich: "Das sieht gut aus!"

Ganz anders die Einschätzung von SPD-Kandidat Rüdiger Veit, der knapp eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale im Rathaus zu seinem Parteifreund, dem SPD-Europaabgeordneten Udo Bullmann stößt. Veit ahnt längst, dass die Verteidigung des dreimal in Folge gewonnenen Direktmandats diesmal wegen den negativen Bundestrends schiefgehen könnte. Und tatsächlich liegt im Konzertsaal, wo die lokalen Ergebnisse auf zwei Großleinwänden präsentiert werden, CDU-Kontrahent Helge Braun von Beginn an in Führung.

Draußen hat Sozialdemokrat Udo Bullmann wieder ein Lächeln auf den Lippen und kommentiert die guten Hochrechnungen für die Liberalen: "So viele Leute haben die doch gar nicht – für diese vielen Mandate im Bundestag."

Jetzt muss sich die SPD endlich mal bewegen" ist derweil Michael Janitzki von den Gießener Linken überzeugt. Für ein Bündnis von SPD und Linken auf Bundesebene sei es 2009 allerdings noch zu früh gewesen. Janitzki: "Da gibt es noch zu viele Gegensätze, beispielsweise wollen wir, dass die Bundeswehr aus Afghanistan rausgeht, da hat die SPD noch eine ganz andere Haltung."

Im Konzertsaal fallen sich Gießens FDP-Kulturdezernent Harald Scherer und der FDP-Kreisvorsitzende Andreas Becker um den Hals. "Das Ergebnis ist eine eindrucksvolle Bestätigung unserer wirtschaftspolitischen Positionen", freut sich Scherer im Gespräch mit einem Journalisten. Nicht minder zufrieden blicken CDU-Kreisgeschäftsführer Johann Gottfried Hecker und Gießens noch amtierender CDU-Oberbürgermeister Heinz-Peter Haumann die Runde.

Als sich viertel vor acht immer deutlicher abzeichnet, dass Mediziner Helge Braun für die Christdemokraten das Direktmandat holen wird, beklatschen gut ein Dutzend Helge-Braun-Fans, einige mit schwarzen Unterstützer-T-Shirts, jedes neue positive Zwischenergebnis. Um kurz nach 20 Uhr kommt dann endlich auch der 36-jährige CDU-Kandidat ins Rathaus, der bereits von 2002 bis 2005 für die Christdemokraten im Bundestag saß. Als er mit viel Applaus von seinen Anhängern empfangen wird, strahlt Braun immer noch ein bisschen ungläubig: "Ich trau dem noch nicht ganz", sagt er, während er für die Fotografen posiert – schließlich seien immer noch ein paar Stimmbezirke nicht ausgezählt. Doch an seinem Sieg gibt's nichts mehr zu rütteln, seine Kontrahenten Rüdiger Veit und Tom Koenigs kommen schon zum Gratulieren – und Braun beginnt nach der ersten Glückwunsch-Runde mit einer kurzen Analyse seines Sieges: Vor allem mit seinen gesundheitspolitischen Themen habe er punkten können, sagt er, "und wir haben einen engen Schulterschluss mit der FDP gezeigt".

Wahlkreis 174: Vier für Berlin

Das Direktmandat hat Christdemokrat Helge Braun mit 36,7 Prozent der Erststimmen geholt. Über ihren Listenplatz ziehen Rüdiger Veit von der SPD (34,2 Prozent), Hermann Otto Solms von der FDP (11,1 Prozent) sowie Tom Koenigs von den Grünen (8,7 Prozent) in den neuen Bundestag ein. Damit ist der Wahlkreis erstmals mit vier Abgeordneten in Berlin vertreten.

Georg Kronenberg


Express Online: Thema der Woche | 1. Oktober 2009

Jammertäler, Höhenflüge

Impressionen vom Marburger Wahlabend

Sonntag, 27.9., 17.30 Uhr. Die Wahllokale machen bald zu, und die Parteien wollen im Landratsamt die Ergebnisse der Wahlen gemeinsam begutachten. Noch ist keiner da. Nur Jörg Behlen spurtet dynamisch in die Räumlichkeiten, stellt fest, dass kleine Verspätungen anscheinend chic sind und verlässt kurze Zeit darauf entspannt, wie er reingesprungen ist, wieder das Gebäude. Ihm wird schon da klar gewesen sein: Seine FDP braucht sich für das noch ausstehende Ergebnis nicht zu schämen. Das Foyer füllt sich erst nach und nach. Viele laufen immer wieder an die große Leinwand, auf der die zur Wahl stehenden Parteien aufgeführt sind. Bald sollen hier die Wahlergebnisse aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf erscheinen. Noch stehen alle bei 0 Prozent (die ersten Rechnungen sollten erst gegen 19.00 kommen), und es scheint, als wollten einzelne Parteianhänger die Leinwand hypnotisieren. Es ist mittlerweile kurz nach 18.00, und noch immer ist keiner der Direktkandidaten anwesend. Im Landratsamt schwebt die zu erwartende, angespannte Stimmung in der Luft. Die ersten Ergebnisse der Bundestagswahl flimmern über den Bildschirm. Die prognostizierten herben Verluste der SPD lösen allgemeine Erheiterung seitens der entsprechenden Lager aus.

Wenig später, ein christdemokratisches Grüppchen seufzt: "Das kann noch Stunden dauern, bis es soweit ist." Ein Irrtum: Schon kurz darauf betritt Stefan Heck das Kreishaus. Wie geht es dem CDU-Direktkandidaten für den Landkreis? "Bei dem Ergebnis: Gut!"

Wahlleiter Reiner Röder taucht auf. Es heißt, in Frankfurt seien falsche Wahlzettel verteilt worden. "Im Landkreis ist alles ordnungsgemäß abgelaufen", versichert er. Na immerhin. Bei der, wie sich später rausstellen sollte, enorm niedrigen Wahlbeteiligung von 73,1 Prozent (-5,2 im Vergleich zu 2005) im Landkreis auch ein sehr übersichtliches Problem ...

Immer wieder drängelt sich die Menge vor die Bildschirme und verfolgt die aktuellen Hochrechnungen. Die CDU ist, trotz aller Verluste, noch immer die stärkste Partei. "Wir warten erst mal ab. Wir wollen nicht zu früh feiern", sagt Heck bescheiden, obgleich sich die Wahl bereits entschieden hat, aber "als Volkspartei müssen wir den Anspruch haben, über 40 Prozent zu kommen." Um kurz vor 19.30 sind dann auch endlich die ersten Wahlergebnisse aus dem Landkreis da. Heck bietet sich mit dem im Landratsmt nicht-anwesenden Sören Bartol (SPD) ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Auch wenn die Zahlen spannend bleiben,ist im Verlauf des Abends bei den anwesenden Kandidaten (neben Behlen und Heck befinden sich auch der grüne Matthias Knoche und der linke Henning Köster in der Menge) ein Übermaß an Anspannung nicht zu spüren. Zu sehr überlagert die Freude über die Bundesergebnisse das allgemeine Abschneiden der Direktkandidaten. Bartol ist noch immer nicht zu sehen.

Kurz nach 21.00: Der große Showdown! Mittlerweile trennen die Top-Kandidaten von CDU und SPD noch nicht mal ein Prozentpunkt. Die Ergebnisse aus Marburg und Biedenkopf entscheiden: Bartol fährt mit 38,9 Prozent (also knapp zehn Prozent weniger als bei der letzten Wahl) direkt in den Bundestag. Dass er sich dort einer Minderheit zugehörig fühlen muss, stört ihn nicht: "Ich werde auch aus der Opposition heraus die Chance haben, etwas zu bewirken", sagt der gebürtige Hamburger, nachdem er von der SPD-Wahlparty spätabends auch endlich im Kreishaus eintrifft.

Am Ende des Abends ziehen die Kandidaten noch einmal ein Resümee ihres eigenen Wahlkampfs. Heck zeigt sich sehr erleichtert und ist von seinem Ergebnis nicht allzu sehr enttäuscht. Immerhin habe er den Abstand zu Bartol deutlich reduzieren können. Behlen wiederum beglückwünscht Bartol zu seiner Wiederwahl und lobt den fairen Wahlkampf. Bartol zeigt sich trotz der späten Stunde dynamisch: "Ich bin weiterhin der einzige Abgeordnete aus Marburg-Biedenkopf. Das ist eine große Verpflichtung für mich."

So klingt nur ein Wahlabend aus.

sfs

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