Ende November feiert die Marburger Lebenshilfe 50 Jahre Einsatz für Menschen mit geistiger Behinderung. Bei den Mitarbeitern der Bundesgeschäftsstelle des gemeinnützigen Vereins geht derweil die Angst um wegen des in Marburg geplanten Stellenabbaus, berichtet Lebenshilfe-Betriebsratsvorsitzender Roland Böhm im Express-Interview.
Express: Herr Böhm, die Geschäftsführung der Lebenshilfe hat im Frühjahr gesagt, dass der Personalabbau aus wirtschaftlicher Sicht "unumgänglich" ist. Stimmt das?
Böhm: Nein. Worüber reden wir hier: Von 69 Vollzeitstellen sollen 25 abgebaut werden, das ist eine Massenentlassung. Betroffen sind und das bei einem Sozialverband auch behinderte Menschen, Alleinerziehende und ältere Arbeitnehmer(innen). Aus Sicht des Betriebsrats ist das nicht vertretbar und überhaupt nicht notwendig. Wir haben die finanzielle Situation der Lebenshilfe von einem wirtschaftlichen Sachverständigen prüfen lassen. Der hat festgestellt, dass die Situation der Lebenshilfe keineswegs so schlecht ist.
Express: Das bedeutet konkret ...
Böhm: Nach der Analyse unseres Sachverständigen hat die Lebenshilfe im Vergleich zu einem normalen Wirtschaftsunternehmen z. B. eine sehr hohe Eigenkapitalquote und sehr hohe Rücklagen. Wir haben auf Grundlage dieses Gutachtens in den vergangenen Monaten ein Gegenmodell zu der Stellenreduzierung erarbeitet und der Geschäftsleitung vorgelegt. Damit sind wir bisher auf taube Ohren gestoßen.
Express: Wie sieht ihr Konzept aus?
Böhm: Wir schlagen vor, die Dienstleistungen der Bundesgeschäftsstelle auszubauen. Wir wollen die Einnahme-Seite stärken, sprich: ein besseres Erbschafts- und Spendenmarketing hinbekommen. Und die hochwertigen Produkte, die wir anbieten, bekannter machen: etwa unsere Fort- und Weiterbildungsangebote oder die Bücher und Medien unseres Verlags von Ratgebern für Menschen mit geistiger Behinderung in einfacher Sprache bis zur pädagogischen Arbeitshilfe oder die Beratung und Unterstützung unserer Orts- und Kreisvereinigungen. Gleichzeitig müssten sich die Verbandsgremien verschlanken.
Express: Warum sind Veränderungen nötig?
Böhm: Hintergrund ist, dass es für Verbände immer schwieriger wird, sich auf dem stark umworbenen Spendenmarkt zu behaupten. Um hier bestehen zu können, braucht man ein gutes Marketing und gute Produkte. Wie man das mit weniger Beschäftigten schaffen will, ist aus Sicht des Betriebsrats nicht erklärlich.Deshalb zielt die Strategie der Geschäftsleitung, Personal abzubauen und auf eine überdimensionierte Berlinpräsenz zu setzen, in die falsche Richtung: Sie untergräbt die finanziellen Grundlagen unserer Arbeit. Nebenbei leisten wir uns im Moment den Luxus dreier Geschäftsführer.
Express: Wie ist die Stimmung unter den Mitarbeitern?
Böhm: Der Betriebsrat erfährt aus vielen Rückmeldungen, dass sich das Betriebsklima dramatisch verschlechtert hat. Die Leute sind enttäuscht und haben Angst. Viele arbeiten seit langem hier und sind eigentlich hoch motiviert, weil sie gern für eine gute Sache arbeiten.
Im Übrigen: Der Betriebsrat verhandelte Ende 2007 einen kleinen Berlinumzug. Dabei versicherte die Arbeitgeberin, dass es dabei bliebe. Nun haben wir erfahren, dass bereits während dieser Verhandlungen der Personalabbau bzw. weitere Umzugspläne vorbereitet wurden. Trotzdem hat Lebenshilfe-Bundesgeschäftsführer Bernhard Conrads noch im Januar 2008 behauptet, es gäbe keine weiteren Umzugspläne. Kurz: Der Betriebsrat und die Belegschaft fühlen sich getäuscht.
Interview: Georg Kronenberg
Wir schreiben das Jahr 2012. In Marburg herrscht absolutes Chaos. Die Mietpreise sind ins Unermessliche gestiegen. Mit fatalen Folgen für alle Studenten. Auch für Tobias. Als er vor ein paar Jahren nach Marburg kam, konnte er sich für 500 Euro gerade noch ein 10qm-Zimmer leisten. Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Schon mit der nächsten Mietpreiserhöhung blieb ihm nichts anderes übrig als auszuziehen. Für einige Zeit übernachtete er in der Badewanne eines Freundes, der ihm dafür satte 300 Euro dafür abknöpfte. Für die Nutzung der sanitären Anlagen musste er extra zahlen. Aber das alles war immer noch besser als die eisigen Wintertage in einem Zelt unter einer der zahlreichen Lahnbrücken zu verbringen, wie es viele Studenten bereits müssen.
Es wird sich schon was finden", sagt sich Tobias immer wieder. Aber es findet sich nichts. Alle WGs sind randvoll überbelegt. Selbst die Mensa wurde zu einer überdimensionalen WG umfunktioniert und ist jetzt fest in den Händen der Theologen. Nähert sich ein Fremder dem Mensa-Gebäude, wie es vor Kurzem ein Informatiker tat, wird er als Ungläubiger beschimpft und vom Dach der Mensa mit Essensresten beworfen. Ja, es sind harte Zeiten angebrochen. Die Mietpreise quellen über wie der Milchschaum in der großen Tasse Kaffee beim Roten Stern. Ach ja, der Rote Stern, das Quodlibet, das Cafe Barfuß, ja sogar die Cavete. Sie alle sind längst nicht mehr Orte des unbeschwerten Lebens. Im Jahr 2012 haben sie durchgehend geöffnet und sind nur noch beheizte Aufenthaltsorte für wohnungslose Studenten, die sich dort einen Teller heiße Suppe abholen können. Maximal 2 Stunden Aufenthalt sind jedem gestattet. Wer länger bleibt, wird rausgeschmissen. Auch für Tobias sind die 2 Stunden längst um. Jetzt ist es Zeit für ihn, sich auf den Weg zu machen. Nach Hause. Zur Konrad-Adenauer-Brücke. Es ist die große Zeit der Lahnbrücken-WGs. Bewohner der Lahnbrücken-WGs werden auch Lahnis genannt, und weil sie erbärmlich stinken, sind sie nicht sonderlich beliebt bei der Marburger Bevölkerung. Ein Lahni zu sein, hat eigentlich nur einen Vorteil: Man hat immer etwas mehr Platz um sich herum. Für Tobias bedeuten die Lahnis aber mehr. Sie sind seine Familie. Es war seine letzte Chance, irgendwo unterzukommen und die wärmende Betonplatte einer Brücke über seinen Kopf zu haben. Obwohl alle Lahnbrücken überwiegend von BWLern besetzt sind, werden auch Mathematiker geduldet. Im Gegenzug helfen sie den BWLern, durch Statistik zu kommen. Nur so ist eine friedliche Koexistenz von BWLern und Mathematikern überhaupt möglich. Außerdem ist es bei den Lahnis immer noch besser als bei den Bahnis. Die Bahnis, das sind die Wohngemeinschaften am Bahnhof. Aber dort ist es noch schmutziger. Wirklich gefährlich ist es aber erst in der Marburger Innenstadt. Dort patrouilliert Tag und Nacht der Marburger Security-Services um wohnungslose Studenten von den Straßen zu räumen. Eine beliebte Vorgehensweise des Security-Services ist es, die Leute im Schlaf zu überraschen. Sie binden ihre Schlafsäcke am Kopfende zusammen, werfen sie auf einen LKW und kippen die gesamte Ladung bei der nächsten Gelegenheit von der Konrad-Adenauer-Brücke. Anfangs ärgerte das die Bewohner unter der Brücke, weil sie sich vom Gestank der angeschwemmten und aufgequollenen Schlafsack-Leichen in ihrer Wohnqualität beeinträchtigt fühlten. Später aber gingen sie dazu über, die Schlafsäcke zu reinigen und an neu ankommende Studenten zu verkaufen. So kommt es vor, dass ein Schlafsack schon mal öfters den sogenannten "Lahnsprung" von der Brücke mitmacht. Mit dem Verkauf von gebrauchten Schlafsäcken öffnete sich für die BWLer ein lukrativer Wirtschaftszweig, und sie verdienen sich einen Arsch voll Geld. Was ihnen aber auch nicht viel bringt, weil sie den größten Teil der Kohle für Statistik Nachhilfe an die Mathematiker weiterreichen müssen.
Es ist schon spät am Abend, als sich Tobias immer noch illegal durch die Oberstadt schleicht. Plötzlich zuckt er zusammen. In der Ferne erkennt er die Silhouetten der städtischen Security-Leute. Mit einem Sprung in die Speckkuchengasse gelingt es ihm noch rechtzeitig, sich ihren Blicken zu entziehen. Der Security-Service hat schon vor einigen Wochen die Patrouillen in der Barfüßerstraße verstärkt, weil hier die meisten illegalen Untervermietungen an herumstreunende Studenten vermutet werden. Tobias ist außer Atem. Fürs erste ist er dem Security-Service noch entkommen, aber schon bald werden sie auch an der Speckkuchengasse vorbeilaufen. Für einen kurzen Moment überlegt er sich, einen Sprint bis zur Untergasse hinzulegen. Dass er es noch rechtzeitig bis dahin schafft, ist aber fraglich. Zudem ist die Gefahr groß, genau dort in die Hände einer anderen Patrouille zu fallen. Was sie mit illegalen Studenten machen, weiß er nicht, aber es gibt Gerüchte, dass ihre Notebooks beschlagnahmt werden. Für Tobias würde es das Ende bedeuten. Seine gesamte Diplomarbeit ist darauf abgespeichert. Die Sicherheitsdisketten bewahrt er in der Seitentasche seiner Cargo-Hose auf. Aber selbst die würden sie ihm abnehmen. Eigentlich wollte er heute Abend zu einem Freund, die Diplomarbeit ausdrucken. Morgen ist letzter Abgabetermin. Angst überfällt ihn. Gleich ist alles vorbei. Gleich werden sie ihn erwischen. Plötzlich öffnet sich eine Tür hinter ihm. Eine Hand greift seine Schulter und zieht ihn nach hinten. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Patrouille um die Ecke kommt, schließt sich die Tür.
Hab keine Angst", flüstert ihm eine Stimme zu. Dann geht das Licht an. Vor ihm stehen sieben Mitglieder der Untergrundbewegung "Marburg Liberty". Bekannt geworden ist "Marburg Liberty" vor allem durch das Verteilen von gefälschten Aufenthaltsscheinen an wohnungslose Studenten. Der Besitz eines Aufenthaltsscheins ist Voraussetzung, um Zugang zur Uni zu erhalten. Aber einen Aufenthaltsschein erhalten nur Personen, die einen Mietvertrag nachweisen können. Tobias hatte mal so einen Schein. Damals noch, als er einen Mietvertrag für den Schlafplatz in der Badewanne besaß. Jetzt hat er nur noch einen gefälschten Aufenthaltsschein, gefälscht von der Untergrundbewegung "Marburg Liberty". Den legendären Helden Marburgs. Den Kämpfern für Studentenrechte. Sie waren seine letzte Hoffnung. Sie würden ihm helfen. Sie würden ihm ermöglichen, den Abgabetermin für seine Diplomarbeit einzuhalten.
Durch verzweigte unterirdische Gänge führen sie Tobias in ihr Hauptquartier. Die Zentrale des organisierten Widerstands. Von hier aus, tief unter der Fachwerkhölle Marburgs, werden alle Aktivitäten gegen die Unterdrücker von Studentenrechten geleitet. Mehr als 30 Leute sind in diesem unterirdischen Labyrinth untergebracht. Sie alle sind freiwillige Helfer von "Marburg Liberty". Und sie erzählen Tobias von ihrem Plan: der groß angelegten Häuserbesetzung.
Vorher allerdings wird erstmal kräftig gefeiert. Durch die zahlreichen unterirdischen Gänge sind die Untergrundkämpfer nämlich in der Lage, die mit Bierfässern gefüllten Vorratskeller der Verbindungshäuser in der Lutherstraße anzuzapfen. Ein nicht endender Strom aus Gerstensaft fließt durch die zahlreichen Plastikschläuche direkt in das Hauptquartier, und eine Gruppe Theologinnen tanzt bei psychedelischer Musik die wilden Tänze der Unabhängigkeit. Das Bier fließt in Strömen, und nach dem fünften Glas hat Tobias seine Diplomarbeit längst vergessen. Am nächsten Morgen unterschreibt er eine lebenslange Mitgliedschaft bei "Marburg Liberty". Wenige Jahre später ist er ihr Anführer und hebt die Untergrundorganisation in den Jahren darauf aus ihrer Illegalität heraus, um sie als Partei bei den Bundestagswahlen 2018 antreten zu lassen. Ihre Botschaft lautet: Kostenloser Wohnraum für alle!
Der Marburger Autor Christoph Kirschenmann liest aus seinem Buch "raumstation marburg" am Donnerstag, 30.10. in der Bierkneipe Schlucke um 21.30 Uhr
Archiv 2008 | Archiv 2007 | Archiv 2006 | Archiv 2005 | Archiv 2004 |
Copyright © 2008 by Marbuch Verlag GmbH |