Express Online: Thema der Woche | 16. Oktober 2008

Drachenherz stärkt Kinder

Was tun, wenn Papi oder Mami trinken? "Drachenherz" ist ein in der Region einmaliges Beratungsangebot, für Kinder und Jugendliche, deren Eltern an einer Alkoholerkrankung leiden

Eva war erst zehn, als sie für ihren Vater einspringen musste. In der elterlichen Gastwirtschaft zapfte sie Bier für die Gäste. Auf dem Feld packte sie mit an, während ihr Vater irgendwo versteckt seinen Rausch ausschlief. Wann er mit dem Trinken begann, weiß sie selbst nicht mehr so genau. An ihre eigene Hilflosigkeit und die Angst um den Vater erinnert sie sich um so besser. Die Schnapsflaschen, die sie in Gummistiefeln oder im Heu fand, schüttete sie heimlich aus. "Ich hätte mir gewünscht, dass es Erwachsene gegeben hätte, die mit uns Kindern gesprochen hätten", sagt die heute 55-Jährige. Doch Verwandte und Bekannte hatten nur mitleidige Gesten. "Ich konnte im Grunde mit niemandem darüber reden", sagt sie im Rückblick.

Dabei brauchen gerade Kinder aus Suchtfamilien frühzeitig Hilfe und Unterstützung, weiß Diplom-Pädagoge Stefan Stark. Der 38-Jährige arbeitet bei "Drachenherz", einem der seltenen Projekte, mit denen betroffene Kinder und Jugendliche gestärkt werden sollen. Vor zehn Monaten wurde es mit Hilfe der Aktion Mensch von der Suchthilfeorganisation Blaues Kreuz in Marburg gestartet. In Hessen gibt nur ein weiteres Hilfsangebot dieser Art in Kassel, bundesweit sind es 47.

Dabei kommen in Deutschland mehr als zwei Millionen Heranwachsende aus Familien mit mindestens einem alkoholsüchtigen Elternteil. Zwei Drittel von ihnen greifen später selbst zur Flasche oder gehen eine Beziehung zu einem suchtkranken Partner ein. So war es auch bei Eva. Während es ihrem Vater noch während ihrer Jugend gelang, sich vom Alkohol zu lösen, geriet sie selbst an einen Mann, der trank. Heute ist er seit vielen Jahren trocken. Doch die Erfahrung hat dazu geführt, dass sich die 55-Jährige ehrenamtlich für das Projekt engagiert.

Für die Kinder ist der Alkohol ein Familiengeheimnis, über das sie nicht einmal mit ihren Freunden sprechen, weiß Stefan Stark. Deshalb stellen sich die Projektmitarbeiter regelmäßig in Schulen vor. Die ersten Kontakte entstehen dann fast immer anonym per E-Mail. Erst später kommen die Jugendlichen auch allein oder in Gruppen zu Spielstunden und Gesprächen in die Beratungsstelle.

Doch spontan spielen mag kaum eines der Kinder. Dabei sind die Jüngsten erst sieben Jahre alt. Und das Spielzimmer mit Ritterburg, Kaufmannsladen, Dartscheibe und Kuschelecke sieht eigentlich wie ein Kindertraum aus. "Ich habe kleine Erwachsene vor mir, die gar nicht spielen wollen", erzählt der Diplom-Pädagoge: "Sie erlauben es sich nicht, ausgelassen und kindlich zu sein." Stattdessen sorgten sie sich dauernd darum, wie es den Eltern gehe. "Die Kinder übernehmen früh ganz viele Aufgaben im Haushalt", sagt Stark, "aber sie überspringen wesentliche Entwicklungsschritte".

Besonders dramatisch sei die Situation bei Kindern von trinkenden Müttern, weil es dann meist sehr wenig Struktur in der Familie gebe. Die Kinder erleben Chaos, Streit, fehlende Geborgenheit und oft auch Gewalt in der Familie. Wie es ihnen selbst geht, sei oft nicht gut erkennbar. Viele fühlen sich schuldig für die Alkoholsucht ihrer Eltern, manche leiden unter Ängsten und Depressionen.

Eine Psychotherapie soll das kostenfreie, nur durch Spenden finanzierte Angebot aber nicht sein. Schließlich seien die Kinder in der Regel ja nicht psychisch krank, sondern litten unter ihrer Lebenssituation. Die Spiel- und Gesprächsgruppen entlasten und stärken die Jugendlichen. Stark: "Sie sollen wissen, dass sie nicht der Grund sind, warum ihre Eltern trinken."

Projekt Drachenherz: Blaues Kreuz, Wilhelmstr. 8a, 35037 Marburg, Tel. 06421-23181, www.drachenherz.blaues-kreuz-marburg.de

Gesa Coordes

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