Express Online: Thema der Woche | 25. September 2008

Mädchen, Clanchefs und die Demokratie

Initiative Afghanisches Handwerk e.V.
Gemeinnütziger, unabhängiger Verein; gegründet 1994 in Marburg
Erstes Hilfsprojekt ab 1995: Arbeit für 30 Frauen durch Hilfe zur Selbsthilfe und Schulbesuch für 27 Kinder unter einfachsten Bedingungen: "Eine afghanische 'Privatschule' in Pakistan, das war eine Zeltplane, ein Ventilator und etwas Lernmaterial." Einige der damaligen Schützlinge sind inzwischen an der Universität.
Aktuelles Projekt: Schulen für Mädchen in der Provinz Wardak, ca. 60 km westlich von Kabul. Bisher angemeldet sind 170 Mädchen in 11 Dörfern. – Im nächsten Schritt: Einrichtung z.B. von Nähwerkstätten und einfache Hilfe zur Arbeitserleichterung für Frauen. "Stellen Sie sich keine Waschmaschine in Wardak vor, das wäre sinnlos. Ein einfaches Waschbrett ist dort für viele schon ein Fortschritt."
Geschätzte monatliche Kosten: 2.000 Euro.
Aufwendung für eine persönliche Patenschaft: 10 – 15 Euro monatlich.
Wünsche (neben Spenden): personelle Unterstützung z.B. bei der PR-Arbeit, lokale Partnerschaften mit Marburger Organisationen, Unternehmen, Vereinen, Schulen
Wunschtraum für die Zukunft: eine Partnerschaft zwischen Marburg und der Provinz Wardak, die übrigens ein Zentrum des Obstanbaus und der Trockenobstherstellung ist.
Kontakt: Shaima Ghafury (Vorsitzende), Tel.: 06424 / 943480, Mail: shaimaghafury[at]hotmail.de
Dr. Nina Köllhofer (Schatzmeisterin), Tel.: 06425 / 80002, Mail: nina.koellhofer[at]baerenimkerei.de
Bankverbindung: Sparkasse Marburg Biedenkopf / BLZ: 533 500 00 / Konto: 0017001540
Ulrike Rohde
Eine Marburger Initiative startet ihr zweites großes Hilfsprojekt für Afghanistan – in sicherer Entfernung von internationalen Schutztruppen

170 Millionen Euro jährlich veranschlagt das Auswärtige Amt für die deutsche zivile Aufbauhilfe in Afghanistan. Das klingt nach großer, handfester Politik.

2.000 Euro monatlich, das klingt dagegen nicht, als ob man viel damit erreichen könnte. Shaima Ghafury weiß, daß man es sehr wohl kann – und sie weiß vor allem, wo: "Es fließt viel Geld nach Afghanistan, hauptsächlich in die größeren Städte. Die Infrastruktur, die dort entsteht, wird aber eher von der Ober- und Mittelschicht genutzt. An der Basis, bei den Armen und der Landbevölkerung, kommt fast nichts an."

Shaima Ghafury, studierte Agraringenieurin aus Kabul und heute Sozial- und Schuldnerberaterin, gehörte 1994 zusammen mit ihrem Mann, dem Agrarökonomen Noor Mohammad Ghafury, zu den Gründungsmitgliedern der "Initiative Afghanisches Handwerk e.V." (IAH) in Marburg. Der gemeinnützige Verein half zunächst afghanischen Flüchtlingsfrauen in Pakistan, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und dadurch eine verläßliche soziale Umgebung zu schaffen (siehe Kasten).

Nach wie vor sind Mädchen und Frauen in den ländlichen Regionen Afghanistans extrem benachteiligt durch Analphabetismus und Armut. Andererseits sind die Menschen dort "friedliche Leute und nicht sehr konservativ. Sie wollen Bildung, auch für die Mädchen." Hier sieht Shaima Ghafury die Grundpfeiler jeden Gemeinwesens: "Demokratie kann nicht von oben kommen. Die Menschen an der Basis müssen sie lernen – indem sie selbst teilnehmen und davon überzeugt sind."

Für den Start des neuen Hilfsprogramms der IAH ist Noor Mohammad Ghafury schon seit Juni in Kabul und der Provinz Wardak unterwegs. Obwohl er selbst aus Wardak stammt, nimmt er als ehemaliger Oppositioneller und heutiger Exilant damit auch ein großes Risiko auf sich. Seine Frau ist dankbar für jedes Lebenszeichen und erträgt es nur schwer, aktuelle Nachrichten aus Afghanistan zu lesen oder zu sehen. Gerade auf dem Land wächst die Angst vor Taliban und selbsternannten Warlords. Und doch: "Die Bevölkerung ist durstig nach Bildung und wartet nur auf Unterstützung."

Das mag überraschend klingen, aber offensichtlich stimmt es: Daß bereits 170 Mädchen in 11 Dörfern für den zukünftigen Schulbesuch angemeldet wurden, setzte nämlich die Zustimmung der jeweiligen Dorfältesten und Clanchefs zu dem Projekt voraus – und wiederum deren inoffizielles Vortasten auf unbekannten Wegen, daß auch etwaige regionale Taliban-Sympathisanten den Unterricht dulden werdenÖ Sind diese Zusagen ein ausreichender Schutz? "Ja, wir können nur hoffen", sagt Shaima Ghafury, "außerdem sind Hilfsprojekte in Afghanistan generell viel sicherer, wenn sie nicht von internationalen Truppen beschützt werden." Das scheint paradox, ist aber eine logische Folge jahrzehntelanger Besetzung und Fremdbestimmung. – Mit Ortskenntnis, großem Engagement und diplomatischem Geschick hat Noor Mohammad Ghafury also vor Ort die wichtigsten Voraussetzungen für das Programm geschaffen.

Dazu kommt ein eher zufälliges gutes Vorzeichen, denn Deutsche genießen in Wardak einen Vertrauensvorschuß: Ein vor Jahren mit deutscher Hilfe gebautes Wasserkraftwerk produziert seit einiger Zeit wieder Strom, und das Krankenhaus Chak-e-Wardak, von der deutschen Krankenschwester Karla Schefter geführt, ist seit 1989 konsequent für die Menschen da, ohne sich mit der 'großen Politik' einzulassen.

Sobald also in Marburg die Finanzierung für die ersten drei Monate gesichert ist, werden in Wardak 170 Mädchen zu Schule gehen und für sich, ihre Familien und ihre Dörfer erste kleine Pfade Richtung Zukunft anlegen. Shaima Ghafury ist sich der Bedeutung des Projekts bewußt: "Wir sind keine Politiker, aber indirekt machen wir doch Politik." Kleine Politik, könnte man sagen; dafür wirklich nachhaltige.

Ulrike Rohde

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