Express Online: Thema der Woche | 4. September 2008

Stern in der Provinz

So mancher Film läuft sonst nirgendwo in Deutschland: Das vielfach ausgezeichnete Licher Kino Traumstern feiert seinen 25. Geburtstag.

Vieles ist anders in dem Licher Kino, als in anderen Filmtheatern. Und das Programm längst nicht nur auf die Filmkunst beschränkt. Ein Beispiel dafür ist die Reihe "Artist's View", bei der namhafte Musiker ein Konzert im Kino geben und anschließend ihren (vorher geheim gehaltenen) Lieblingsfilm vorstellen. In Lich haben sich so schon international renommierte Musiker wie Albert Mangelsdorff, die Jazzerin Barbara Dennerlein oder Marcus Stockhausen die Klinke in die Hand gegeben. Der Einzugsbereich des Filmtheaters reicht bei dererlei Veranstaltungen denn auch bis ins Rhein-Main-Gebiet.

Anfang der 80er Jahre war das große Kinosterben als Folge des Videobooms noch in vollem Gange, als Sozialarbeiter Edgar Langer und seine ehemaligen Mitstreiter Horst Conrad und Michael Müller 1983 die kurz zuvor geschlossenen "Licher Lichtspiele" anmieteten. Um der "kulturellen Austrocknung, wie sie in der Provinz besonders festzustellen ist, entgegenzuwirken", formulierten die Kinomacher damals. Den Namen "Traumstern" hatten sie vom Fritz Lang-Film "Frau im Mond" entlehnt.

Mit monatlichen Schwerpunktthemen wie "Krieg und Frieden", "Ausländerfeindlichkeit" oder "Filme für Frauen" wurde die politische Linke von dem jungen Kino-Kollektiv angesprochen und teilweise auch an der Programmplanung beteiligt. Auf Zuschauerwunsch kamen freilich auch schnell Kassenschlager wie "Krieg der Sterne" ins Programm. Die Jugendlichen aus der Region trafen sich zudem bei Musikveranstaltungen in der angrenzenden Alternativ-Kneipe "Statt Gießen".

Der regionale Bezug bei der Programmplanung ist den Kinomachern seit jeher wichtig. So hat sich die umfangreiche jährliche Licher Veranstaltungsreihe zur Reichspogromnacht am 9. November 1938 nicht zuletzt durch Ausstellungs- und Filmprojekte im Kino entwickelt. Der Verein künstLich, der anspruchsvolle Veranstaltungen aus den Bereichen Musik, Theater, Literatur, und Ausstellungen im 2006 eröffneten Kulturzentrum Bezalel Synagoge, dem Kino oder dem angrenzenden Restaurant organisiert, ist aus dem Traumstern-Umfeld entstanden.

Überregional ist das Kino mit etwa 50.000 Besuchern jährlich seit langem durch sein anspruchsvolles Filmprogramm bekannt. So mancher Film läuft sonst nirgendwo in Deutschland. Allein im vergangenen Jahr wurden in Lich Filme aus über 40 verschiedenen Ländern gezeigt. Und das Traumstern deckt mit seinem umfangreichen Kinderkino, Kurz-, Dokumentar- und Spielfilmen sämtliche Kategorien ab, die man im Kino bieten kann. Lohn des herausragenden Programms sind nicht weniger als 99 Bundes- Landes- und regionale Kinopreise innerhalb von 25 Jahren. So erhielt das Kino bei der Verleihung der Kinoprogrammpreise 2008 für das herausragende Jahresfilmprogramm, das gute Kinder- und Jugendfilmprogramm, die Kurzfilme und die Dokumentationen Preisgelder von insgesamt 25.000 Euro.

Die Auszeichnungen bringen weit mehr als nur Anerkennung in die mittelhessische Provinz: "Die Preise decken auch Finanzdefizite durch unsere Programmgestaltung ab", berichtet Hans Gsänger, der das Kino in dem 14.000-Einwohner-Fachwerkstädtchen gemeinsam mit Edgar Langer seit 1988 leitet. Eine institutionalisierte Förderung gebe es für das Kino nicht.

Sorgen macht den Programmmachern im Jubiläumsjahr denn auch das in Gießen geplante Multiplexkino: Wenn die bereits bestehenden Gießener Kinos sich auf Filmkunst spezialisierten, „könnten die uns plattmachen“, befürchtet Langer.

Das Traumstern-Jubiläumsprogramm:
Do. 4.9.: artist's view mit Chris Jarrett: Zum 10-jährigen Bestehen der Reihe "artist's view" ist der Pianist Chris Jarrett zu Gast im Traumstern. Der Bruder von Keith Jarrett wuchs als Sohn einer slawischen Familie in den Wäldern der nordamerikanischen Appalachen auf. Er begann sein Studium am renommierten Oberlin Conservatory of Music. In Oldenburg (Deutschland) führte er Mitte der 80er Jahre sein Studium fort. Von dort aus begann er seine Karriere als Komponist für Ballett und Filmmusik. (Beginn 19:30 Uhr)
Fr. 5.9. Preview: "Die Entdeckung der Currywurst" mit Regisseurin Ulla Wagner (Beginn 19:30 Uhr)
Sa. 6.9.: Traumsternkinofest ab 20 Uhr
So. 7.9.: Traumstern-KinderKinoFest 12 Uhr-18 Uhr

red


Express Online: Thema der Woche | 4. September 2008

Keine Zukunft ohne Vergangenheit

... war der Titel einer Konferenz über die Perspektiven der Demokratisierung und Förderung des Friedens in Rwanda, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo. Dabei ging es aber nicht nur um die wissenschaftliche Reflektion eines Völkermordes, sondern ganz konkret um gelebte Aussöhnung und Verständigung.

Das vom Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg und dem Verein Imbuto e.V. aus Fronhausen/Lahn vom 14. bis 17. August 2008 organisierte internationale Symposion arbeitete entsprechend mit der Überzeugung, dass nur eine konsequente Erinnerungsarbeit solide Fundamente für konkrete und authentische Zukunfts- und Konfliktregelungs bzw. -lösungsprozesse gestalten kann.

Der 1994 in Rwanda unter den Augen der internationalen Öffentlichkeit passierte Völkermord mit schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit – schätzungsweise 800.000 Menschen wurden ermordet – ist auch 15 Jahre später genug Grund, Erfahrungen und Lösungsansätzen mit dem Ziel zu bündeln, die Demokratisierung und Förderung eines nachhaltigen Friedens in der Region der großen Seen in Zentralafrika zu stärken. Die Aufarbeitung des Genozids und die Suche nach geeigneten Werkzeugen für die zu leistende Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit zog sich wie ein roter Faden durch die Vorträge und Workshops der Tagung. Dafür war eine wichtige Voraussetzung, so Hildegard Schürings von Imbuto e.V., dass neben den anwesenden Wissenschaftlern auch die Akteure aus den teilweise untereinander verfeindeten Staaten in Marburg zusammen kamen.

Neben den Wirkungen der geopolitischen Veränderungen und binnenstaatlicher Transformationsprozesse auf die Konfliktsituationen in Rwanda, Burundi und Kongo von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart wurde in einem zweiten Themenschwerpunkt auf die beteiligten Akteure in der Konfliktregion und auf die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen für eine juristische Aufarbeitung des Genozids eingegangen. Dass die Perspektiven der Zukunftsgestaltung in der Region der großen Seen ohne eine konsequente Vergangenheitsbewältigung nicht möglich ist und dass das Erinnern, Aufarbeiten und zur Sprache bringen der erlittenen Verletzungen und Traumata die einzige Chance für nachhaltige Heilungs- und Versöhnungsprozesse sein kann, bildete schließlich einen dritten Themenschwerpunkt, der u.a. mit einem eigenen Workshop auf die Leidensgeschichten- aber auch auf die Überlebensfähigkeiten der Mädchen und Frauen in Rwanda einging. Esther Mujawayo hatte zusammen mit ihren drei Töchtern den Genozid überlebt, dabei aber ihren Mann und ihre Familie verloren.

Die Hölle der Massaker und Vergewaltigungen, das unsagbar Böse zu überleben, ist nicht alles. Zum Leben zurückzukehren, Worte zu finden und zu verzeihen, um für sich und die anderen Überlebenden der Katastrophe eine Zukunft bauen zu können, das ist mir gleichzeitig Herausforderung und Ziel für mein Leben" sagt sie und fügt an, dass es immer wieder darum geht, das Leben neu zu beginnen. "Auch wenn dies bedeutet, den Mördern meiner Familie begegnen zu können, ohne dabei verrückt zu werden. Ich zeige ihnen, dass ich lebe und dass ich mein Wissen über das Geschehene an die nachfolgenden Generationen weitergebe, um diese jungen Menschen stark und klug für ihr Leben zu machen. Das ist vielleicht mein größter Erfolg über das Böse."

Auch die Worte von Marie Aimable Umurerwa, der zweiten Zeitzeugin in diesem Workshop sprechen von Versöhnungsarbeit und Friedenserziehung. "Hass und Rache zerstören, nur Liebe kann dem Schlimmsten standhalten und neue Perspektiven für die Zukunft konstruieren" sagt sie und beschreibt, wie sie den Kindern der durch den Genozid traumatisierten und oft sprachlos gewordenen Elterngeneration z.B. dabei hilft, ihre eigenen Sprachfähigkeiten und Zukunftsvorstellungen zu entwickeln.

Die enorme Bedeutung der kollektiven Erinnerungsarbeit als Werkzeug, um die Vergangenheit mit der Zukunft konstruktiv in Beziehung zu setzen und die dafür wichtige Dialogbereitschaft aller Beteiligten, sich eindringlich mit den Perspektiven des Gegenüber vertraut zu machen, stellte Rene«Lemarchand, einer der profiliertesten Kenner Zentralafrikas, als bleibende Aufgabe heraus und wertete die Marburger Konferenz selbst als wichtigen Schritt der Erinnerung, des Dialogs und der Versöhnung.

Interview mit Johannes M. Becker, dem Geschäftsführer und Koordinator des Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg:

Express: Wie kann Wissenschaft zum Motor von Erinnerungsarbeit werden, die nachhaltig Konfliktlösungsprozesse von überregionalen Ausmaßen verwirklicht?

Becker: Wissenschaft kann Konflikte von außen betrachten, ohne Partei ergreifen zu müssen, um dann einen Wechsel der Perspektiven und Positionen unter den Konfliktparteien zu inspirieren. Spielerisch können Studierende der Friedens- und Konfliktforschung (FuK) z.B. die unterschiedlichen Rollen eines Konfliktes übernehmen, um die Konfliktgeschichte, die Konfliktparteien und die unterschiedlichen Interessen im Konfliktzusammenhang besser reflektieren, verstehen und erklären zu können.

Express: Ist das so einfach?

Becker: Natürlich nicht. Zunächst ist es wichtig, einen Konflikt als vorhanden zu akzeptieren und vorhandene Konfliktpotentiale zu erkennen. Konflikte können produktiv sein. Dabei muss zwischen Konfliktreglung und Konfliktlösung unterschieden werden. Manche Konflikte z.B. die im Nahen Osten lassen sich nicht einfach so aus der Welt schaffen und lösen. Dennoch macht es Sinn, über die bestmögliche Reglung solcher Konflikte jenseits von militärischen Optionen nachzudenken, auch wenn eine vollständige Lösung in weiter Ferne liegt. Das muss das uneingeschränkte Ziel sein, Konflikte ohne militärische Mittel zu regeln und im besten Fall zu lösen.

Express: Jenseits von militärischen Lösungen über Konflikte nachzudenken, klingt gut. Wie sieht es mit den Mitteln für diesen Ansatz aus?

Becker: Nicht so gut. Während die Friedensforschung jährlich mit ca. 150 Millionen Euro auskommen muss, stecken private und staatliche Interessengruppen ca. 15 Milliarden Euro in die Militär- und Rüstungsforschung; der Etat der Bundeswehr beträgt insgesamt ca. 30 Milliarden Euro im Jahr. Auch wir hätten ohne die Unterstützung der Volkswagenstiftung, der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und des Deutschen Akademischer Austauschdienstes (DAAD) wohl kaum eine so umfangreiche Tagung auf die Beine stellen können.

Express: Die Koordination ihrer Kräfte ist eine der großen Schwächen der weltweit agierenden Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs). Eröffnen z.B. Kooperationen zwischen Wissenschaft und NGOs wie im Falle der Organisation ihrer Konferenz neue Handlungsspielräume?

Becker: Ja, mit Sicherheit. Durch die Kooperation in diesem Falle mit dem Netzwerk von Imbuto e.V. haben wir es u.a. geschafft, unsere Konferenz mit mehr als der Hälfte der Teilnehmenden aus den eigentlichen Konfliktregionen auf die Beine zu stellen. Alle Konfliktparteien aus allen betroffenen Konfliktländern kamen zusammen, um zu zuhören, miteinander zu reden und um demokratische Prozesse zu organisieren. Insgesamt waren Frauen in der Überzahl. Das bot uns vielfältige Möglichkeiten zur gelebten Konfliktreglung, bei der wir viel gelernt haben.

Express: Wie geht's weiter?

Becker: Für die Studierenden des Zentrums für Konfliktforschung bot die Konferenz eine einmalige Chance, mit Betroffen und erfahrenen Menschen aus der Region der großen Seen sich auszutauschen und bspw. Interviews zu machen, um darauf ihre Qualifizierungsarbeiten aufzubauen. Darüber hinaus denken wir über eine Folgekonferenz nach, die dann aber in einem der Konfliktländer stattfinden sollte.

Express: Was können interessierte Menschen lernen und verbessern angesichts der gegenwärtigen Krisen?

Becker: Erstens: Glaube den bürgerlichen Medien kein Wort. Höchste Skepsis ist angesagt, wenn z.B. über den Konflikt im Kaukasus berichtet wird. Zweitens: Es gibt keine einfachen Wahrheiten. Perspektivwechsel ist angesagt, wenn wir überkommene Schwarz/Weiß- bzw. Gut-/Böse-Kategorien entkräften und neue Konfliktlösungsmodelle z.B. für die katastrophale Situation in Darfur im Sudan jenseits militärischer Interventionen andenken und entwickeln wollen. Ich weiß, dass die Welt nicht friedlich ist, aber keine Konfliktgeschichte und kein politisches Problem wurden jemals durch Militärs gelöst.

Express: Die Aufgaben der Zivilgesellschaft angesichts des globalen Dorfes aus ihrer Sicht?

Becker: Darauf zu drängen, dass die Vereinten Nationen (UNO) reformiert werden und als einzige Institution das Gewaltmonopol besitzen dürfen. Eine reformierte UNO deshalb, weil: Es kann nicht sein, dass gerade die Länder mit dem größten Rüstungs- und Wirtschaftspotential, die dazu im Besitz von Atomwaffen sind, in der UNO mit dem Vetorecht ausgestattet sind. Entwicklungsländer und NGOs wie z.B. "Ärzte ohne Grenzen", die ein tieferes Verständnis von der Lage der Kranken, Armen, Frauen und Kinder auf der Erde haben, müssen innerhalb der UN mit mehr Stimmgewicht und Entscheidungsbeteiligungen ausgestattet werden. Es kann auch nicht sein und untergräbt die Glaubwürdigkeit der UNO, dass die Staaten Lateinamerikas und Afrikas derart unterrepräsentiert sind, die EU aber bspw. allein mit zwei Staaten im entscheidenden Sicherheitsrat vertreten ist.

Express: Was zeichnet die Situation im Zentrum für Konfliktforschung besonders aus?

Becker: Dass wir in relativer kurzer Zeit zu einem wichtigen und integrativem Element im wissenschaftlichen Spektrum der Philipps-Universität geworden und diese Verantwortung mit großer Begeisterung weiterentwickeln. Dass bereits 1000 Studierende der Philipps Universität FUK im Nebenfach und 100 im Masterstudiengang studieren und dass wir mit dem erstgenannten Angebot im gesamten deutschsprachigen Raum die Einzigen sind. Des Weitern unsere Ansätze zu interdisziplinärer Lehre und Forschung.

Express: Ihre Hoffnung für die weitere Arbeit des Zentrums für Konfliktforschung.

Becker: Dass die politische Öffentlichkeit sich auf unsere Absolventinnen einlässt und ihre Potentiale in anstehenden Konfliktprozessen zu nutzen lernt.

Infos: Zentrum für Konfliktforschung, Philipps-Universität, Marburg: http://www.uni-marburg.de/konfliktforschung
http://www.imbuto.net
http://www.uni-marburg.de/konfliktforschung/
afrikanische-grosse-seen/

Thomas Gebauer

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