Express Online: Thema der Woche | 12. Juni 2008

Stadt an der Sonne

Solarpflicht
Mit der geplanten Solarpflicht für alle Häuser ist die Universitätsstadt Marburg bundesweit in die Schlagzeilen geraten. Nach der Solar-Satzung, die am 20. Juni beschlossen werden soll, müssen sich ab 1. Juli die Bürger eine solarthermische Anlage anschaffen, sobald sie ein neues Haus bauen, die Heizungsanlage austauschen, ein Gebäude erweitern oder ein Dach sanieren. Es fehlt nur noch die Zustimmung des Stadtparlaments, die aber als sicher gilt. Damit wäre Marburg die erste deutsche Stadt, die eine solare Baupflicht einführt. Flächendeckend gibt es das Modell bislang nur in Israel und Spanien.
Gesa Coordes
Marburg will Stadt der Solardächer werden. Der Express sprach mit dem Marburger Bürgermeister Franz Kahle (Grüne) über den umstrittenen Plan.

Express: Herr Kahle, wie lange wird es dauern, bis jedes Haus in Marburg eine Solaranlage auf dem Dach hat?
Franz Kahle: Es gibt einige historische Gebäude wie das Schloss und die Elisabethkirche. Da wären Solaranlagen nicht ratsam. Bei den normalen Gebäuden stelle ich mir einen Zeitraum von etwa 20 Jahren vor.

Express: Wie viele von Marburgs Häusern haben schon eine Solaranlage?
Franz Kahle: In Marburg gibt es 400 solarthermische Anlagen. Das heißt, dass jeder 200. Bürger eine Anlage besitzt. Damit werden pro Jahr 160 000 Liter Heizöl und 800 Tonnen Kohlendioxid gespart. Mit den 209 Photovoltaik-Anlagen, die es in Marburg gibt, holen wir an einem schönen Sonnentag bereits vier Prozent des Strombedarfs der Stadt.

Express: Wie autark kann die Stadt werden?
Franz Kahle: Wir sind davon überzeugt, dass Marburg völlig autark werden könnte, wenn man Sonne, Wind, Biogas und Blockheiztechnik richtig kombiniert.

Express: Warum wollen Sie Ihr Ziel mit Zwang und Bußgeldern durchzusetzen?
Franz Kahle: Wir wollen einen Paradigmen-Wechsel erreichen. Auch im Altbaubestand sollen Solaranlagen zum Regelfall werden. Und wir sehen keine andere Möglichkeit, um hier eine Trendwende hinzukriegen. Technisch ist die Solarthermie seit 20 Jahren ausgereift.

Express: Warum setzen Sie nicht auf Freiwilligkeit?
Franz Kahle: Wir gehen ja nicht so rigide vor wie das Land Baden-Württemberg mit seiner CDU-FDP-Regierung. Dort muss ab 2010 für jedes Gebäude – ob Alt- oder Neubau – nachwiesen werden, dass 25 Prozent der Gesamtenergie aus erneuerbaren Rohstoffen kommt. Das ist sehr viel mutiger und weitgehender als unser Modell. Aber wir sind auch kein Landesgesetzgeber sondern nur eine kleine Kommune. Wir sagen, wenn jetzt eine neue Heizung oder ein neues Dach kommt, werden die Weichen für die nächsten 25 Jahre für dieses Haus gestellt. Da haken wir ein mit unserem Zwang.

Express: Böse Zungen sprechen bereits von der Ökodiktatur.
Franz Kahle: Die Ökodiktatur kommt von einer ganz anderen Seite. Die Energiepreiserhöhungen treffen vor allen Dingen die mittleren und kleineren Haushalte. Die zahlen im Moment mit voller Breitseite dafür, dass wir seit 20 Jahren eine falsche Energiepolitik machen. Seit 1990 haben sich die Wärmepreise verdreifacht. In einigen Fällen überschreitet die zweite Miete bereits die erste. Das heißt, die Ökodiktatur kommt. Sie wird uns vorschreiben, wer sich noch eine warme Wohnung leisten kann und wer nicht.

Express: Warum wollen Sie unbedingt thermische Solaranlagen? Warum sind Photovoltaik, Wärmedämmung oder andere Energiesparmaßnahmen nur in einigen Ausnahmefällen möglich?
Franz Kahle: In der öffentlichen Diskussion sprechen wir vor allem über Strom. Tatsächlich ist die Frage der Wärmeerzeugung das viel größere Thema. Es ist wichtig, dass man Licht und Standby-Geräte ausknipst, aber 80 Prozent der Energie im Haushalt besteht aus Wärme und Warmwasser. Wir brauchen unsere südgeneigten Dächer als eine unserer größten Energieressourcen. Das ist die effektivste Art der Wärmeerzeugung. Solarthermie hat einen Wirkungsgrad von 40 bis 50 Prozent. Bei der Photovoltaik sind es nur 17 bis 18 Prozent. Natürlich gehört auch eine gescheite Dämmung und eine gute Heizungshydraulik dazu.

Express: Wird man beim Blick auf die Marburger Oberstadt in Zukunft spiegelnde Flächen anstelle der alten Dächer sehen?
Franz Kahle: Wir haben schon viel solare Nutzung auf denkmalgeschützten Häusern in der Altstadt. Das sieht man nur kaum, weil man vom Schloss her auf die Norddächer schaut. Was auf den Süddächern drauf ist, erkennt man wohl nur mit dem Teleobjektiv. In der Oberstadt wird aber jede Anlage einzeln geprüft. Es gibt Systeme, die sich sehr unauffällig an die roten Dächer anpassen.

Express: Kritiker werfen Ihnen vor, Sie wollten sich nur profilieren. Wollen Sie als der erste deutsche Bürgermeister in die Geschichte eingehen, der eine Solarpflicht für alle Häuser eingeführt hat?
Franz Kahle: Mir geht es um die Sache. Mit dem Marburger Modell werden wir einen Schritt weiterkommen. Aber für ein umfassendes Energiekonzept wird das ohnehin noch nicht reichen.

Interview: Gesa Coordes


Express Online: Thema der Woche | 12. Juni 2008

"... und Poldi trifft"

Autokorso & Co. – Beim EM-Auftakt für Deutschland war die Stimmung in Gießen fast noch besser als bei der WM 2006. Einzig die Moderation in der Public Viewing-Arena hatte einen Tiefpunkt.

Für Jan, Philipp und Uwe auf dem Parkplatz gegenüber der alten Polizeigebäude im Schiffenberger Tal ist das Sonntagabend-Programm klar: "Wir gewinnen 3:1 – und ziehen dann zum Berliner Platz", geben die drei Studenten gut eine Dreiviertel Stunde vor dem Anpfiff des EM-Spiels Deutschland-Polen die Richtung vor.

Am Einlass in der EM-Arena haben sie dann erstmal ziemlich Glück: Kurz nachdem die drei drin sind, macht die Public-Viewing-Area die Schotten dicht – die behördlich genehmigte Zuschauerzahl – 4500 – ist gegen 20 Uhr bereits erreicht.

Vor dem 25-Quadratmeter-Bildschirm drinnen herrscht beste Stimmung und kein Zweifel, wer Europameister wird: "Deutschland natürlich", ist sich etwa die 23-jährige Ilka Müller aus Grünberg sicher. Derweil übt sich EM-Arena-Moderator Markus Pfeffer auf der Bühne als Anheizer – und fragt wie viele polnische Fans es in die Gießener Public-Viewing-Arena verschlage habe. Als Erklärung für die prozentual sehr kleine Menge hat er dann seine ganz besondere Erklärung parat: Die meisten Polen seien eben "beim Spargelstechen" in Darmstadt, witzelt er. Was aber ganz ok sei, schließlich seien sich viele Deutsche dafür zu schade. Vereinzelt wird im Publikum gegrölt. "Das ist Diskriminierung, Moderation auf unterstem Stammtisch-Niveau", ärgert sich ein Anfang 50-Jähriger. Auch für seinen Nachbarn steht fest, wer die erste rote Karte des Abend verdient hätte: "Gott sei Dank fängt gleich das Spiel an, dann müssen wir den nicht mehr hören." Und eine Afrikanerin konstatiert ernüchtert, "mit so einer Peinlichkeit hätte ich hier jetzt nicht gerechnet".

Zurück zu erfreulicherem, dem Spiel: Als in der 20. Minute Podolski das 1:0 schießt, gibt es minutenlang kein Halten mehr. "Das ist wie bei der WM. Super Wetter, super Laune und Poldi trifft", jubiliert eine Anfang 20-Jährige, die sich in eine Deutschland-Fahne gehüllt hat.

Beim 2. Treffer stehen auch die Fans im EM-Arena-Biergarten auf ihren Bänken. Als der Abpfiff kommt, geht die Party vor der Bühne weiter. Fahnen werden wild geschwenkt, es wird getanzt, gesungen und sich gegenseitig fotografiert.

Und der Plan von den Studenten Jan, Philipp und Uwe wird kollektiv umgesetzt: per pedes, mit dem Rad oder fahnenschwenkend im Auto zieht ein Großteil der Fußballfans Richtung Innenstadt, zum Berliner Platz wie bei der WM anno 2006. Dort, an der teilweise blockierten Kreuzung vor dem Stadttheater kocht die Stimmung längst.

Die Musik dazu kommt aus den Boxen eines zum EM-Mobil 2008 schwarz-rot-gold umgespritzten PKW. Fahrer Manuel hat gerade die Musikanlage fertig installiert, steht auf seinem Autodach und schießt mit der Digicam ein paar Erinnerungsfotos, während die Menge vor ihm begeistert immer wieder die La-Ola-Welle macht. "Und das ist erst das erste Gruppenspiel, freut sich ein müde dreinblickender Mittdreißger, der sich ermattet mit diversen Fan-Utensilien und Bierpulle auf der Mauer vor der Kongresshalle niedergelassen hat: "Wir machen jedes Spiel mehr Party – bis zum Finale."

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Georg Kronenberg

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