Express Online: Thema der Woche | 24. Januar 2008

"Ultima Ratio"

Das Jugendamt des Kreises Gießen macht bundesweit Schlagzeilen: ein gewalttätiger 16-Jähriger wurde für neun Monate zur Einzelbetreuung nach Sibirien geschickt

Bereits seit Sommer und noch bis zum Frühjahr befindet sich ein 16-jähriger deutscher Jugendlicher ohne Migrationshintergrund aus dem Landkreis Gießen in einem Betreuungs-Programm in Sibirien. Alles andere als ein Abenteuer-Urlaub: Das Kreis-Jugendamt entschied sich zu dieser Maßnahme, nachdem der Junge durch seine Aggressionen mehrfach die Schule wechseln musste und sich auch gegenüber seiner Mutter gewalttätig verhielt. Zudem flüchtete er aus einer Jugendhilfeeinrichtung. Der Erste Kreisbeigeordnete und Jugenddezernent, Stefan Becker, betonte, dass diese Maßnahme den einzig verbleibenden Weg dargestellt habe.

Diese "Ultima Ratio" (Becker) stehe ausdrücklich in keinem Zusammenhang mit der aktuellen Debatte um Jugendkriminalität im hessischen Wahlkampf. "Er ist kein Schläger, nicht vorbestraft und die Maßnahme keine Zwangsmaßnahme oder Bestrafung, sondern eine sozialpädagogische Einzelmaßnahme, für die man sich im Einvernehmen mit Ärzten, der Mutter und dem Betroffenen entschieden hat", machte Becker deutlich. Im übrigen greife man wie andere Jugendämter auch seit Jahren auf solche Maßnahmen zurück, "wenn es die Umstände es erfordern".

Ziel des Aufenthaltes im russischen Dorf Sedelnikowo, einer 5000-Einwohner-Siedlung nördlich der westsibirischen Großstadt Omsk ist es, dem seelisch behinderten Jungen gewisse Lebensstrukturen zu vermitteln, mithilfe derer er seine Kraft und Aggressionen steuern kann. Nach Aussagen von Peter Heydt, Leiter des Jugendamtes, scheint dies auch zu gelingen. Schließlich soll es keine Strafaktion sein: "Wir wollen ihn damit zurück in die Gesellschaft holen", heißt es beim Landkreis.

Und man ist derzeit optimistisch: Eine Mitarbeiterin der Behörde hatte sich kurz vor Weihnachten vor Ort über die Verfassung des Jugendlichen und die Umstände seiner Unterbringung informiert und kehrte positiv überrascht zurück. "Ihm geht es gut. Er hat klare Richtlinien, einen geregelten Tagesablauf und die Umgebung ist für ihn wegen der wenigen äußeren Reize ideal", verdeutlichte Jugendamtsleiter Heydt.

Sein Leben verläuft ohne Fernsehen, Internet, ohne Konsum und Handy. Seinen drei Kilometer langen Weg zur Schule, wo es Deutschunterricht gibt, legt der Jugendliche bei 30 Grad minus zu Fuß zurück. Wenn er es warm haben will in dem kleinen Holzhaus, muss er vorher sein Feuerholz selbst hacken. Fließendes Wasser holt er für sich, seinen Betreuer und alte und gebrechliche Nachbarn am Brunnen. Für das offene Plumpsklo im Hof hat er sich selbst eine Hütte gezimmert.

Er lernt, dass sein Tun einen Sinn hat, dass beispielweise das Haus ohne Holz kalt bleibt", macht Heydt deutlich. Zudem ist der junge Mann aufgrund der Rahmenbedingungen gezwungen, sich auf seinen Betreuer einzulassen, der mit ihm die festen Strukturen im Alltag erarbeitet. Das gehe am besten fern der Heimat, wo er niemanden kennt, zu dem er weglaufen könnte und wo zudem die Sprachbarriere den Kontakt zur Umwelt erschwert.

Träger der Maßnahme ist die gemeinnützige Jugendhilfeeinrichtung "Pfad ins Leben" aus Jena (Thüringen), die Angebote im Bereich der intensiven sozialpädagogischen Jugendhilfe seit Jahren erfolgreich anbietet. Die Kosten liegen mit 150 Euro Tagessatz nicht höher als eine Betreuung in Deutschland. Bei einer geschlossenen Einrichtung, die möglicherweise der nächste Schritt gewesen wäre, wäre das Dreifache an Kosten auf den Kreis zugekommen.

Im Frühjahr kehrt der Jugendliche aus Russland zurück. Er soll zunächst in einer betreuten Einrichtung leben, dort zur Schule gehen und einen Schulabschluss machen. Dann werde man ihn bis zur Ausbildung weiter begleiten, berichtet das Jugendamt, das "berechtigte Hoffnung hat, dass die Maßnahmen zum Ziel führen", so Heydt.

kro/pe

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