Express Online: Editorial | 25. September 2008

Der Herbst

... ist seiner ursprünglichen Wortbedeutung nach die Zeit der Früchte, die Zeit des Pflückens, die Erntezeit. Doch nicht nur der Anblick von abgeernteten Getreidefeldern und der farbenprächtig vollendeten Reife saftiger Äpfel und rotgoldener Kürbisse oder der Zug der Kraniche über Mitteleuropa zeichnen diese Übergangszeit zwischen Sommer und Winter eindrucksvoll aus. Auch Sturm- und Regenwetter und das vom Wind über die Böden gejagte bunte Laub sowie eine gewisse Melancholie der Menschen werden angesichts kühlerer und lichtärmerer Tage mit Herbst assoziiert.

Die Herbstzeit ist dennoch ein prall gefüllter Ideenspeicher für vielfältige Aktivitäten. Einzigartige Naturschauspiele laden zu ausgedehnten Herbstwanderungen und z.B. die anstehende Pilzsaison zu kulinarischen Entdeckungsreisen in den heimischen Wäldern und Küchen ein. Auch kulturgeschichtlich spricht der diesjährige Herbst intensive Einladungen aus, die eigenen Sinne für Wesentliches zu schärfen. Allein der Begriff "Deutscher Herbst", der die Zeit und ihre politischen Hintergründe in Westdeutschland im September und Oktober 1977 bezeichnet, ist als Angebot zu Neugierde und Wissenserweiterung nicht aus dem kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft wegzudenken.

Es muss also nicht so sein, wie Rainer Maria Rilke 1903 in seinem Gedicht "Herbsttag" schreibt, dass: "Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben." Denn Gemeinsinn und gemeinsame Unternehmungen sind nicht nur im Herbst gut zur Erhaltung der menschlichen Körperwärme.

red

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