Express Online: Editorial | 18. September 2008

Unterzuckerte Zeitgenossen

... sieht man dieser Tage viele. Sie stehen trotz übler Kopfschmerzen am Fließband, unterrichten in Schulen, kneten Pizzateig, büffeln für die Uni – und halten ohne zu essen und zu trinken durch bis nach Sonnenuntergang. Dann aber wird es gesellig, denn "mit dem Schweren kommt das Leichte": Nach Möglichkeit trifft sich die ganze Familie, Freunde werden eingeladen, und man isst, lacht, redet und lässt Allah einen guten Mann sein. Sobald man dann "in der Morgenröte einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden" kann, wird wieder gefastet.

Noch bis zum 29. September ist Ramadan, der Monat, in dem nach islamischem Glauben der Koran herabgesandt wurde. Es ist eine Zeit, in der das Fasten und die Gebete Reinigung, Opfer an Gott und auch Wertschätzung bedeuten. Indem man verzichtet, würdigt man all das Gute, das man sonst im Alltag für selbstverständlich nimmt. Darum wird jetzt auch besonders gern geteilt: Je nach Klima, Geldbeutel und lokaler Tradition findet die Nachtmahlzeit auf der Straße statt, und man lädt Arme oder auch Fremde dazu ein.

Aber zurück nach Mittelhessen. Wer am Schmelzofen einer Eisengießerei arbeitet, kann schlichtweg nicht fasten. Wer als einziger seiner Familie an der Lahn gestrandet ist, wird nur noch am Telefon einen Zipfel der heimeligen Geselligkeit erhaschen. Wer sich den ganzen Tag um Patienten gekümmert hat, sieht es gar nicht ein, abends auch noch für ein Dutzend Cousins und Onkel zu kochen. Sachzwänge, soziale Umbrüche, Stress.

Erinnert Sie da auch Manches an Weihnachten und wie es früher einmal ... hätte sein können? Damals, als es im Winter noch schneite, der Advent ein Fastenmonat und alles gut war.

Ulrike Rohde

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