Express Online: Thema der Woche | 6. Dezember 2007

"... ein fremder, hässlicher Tod"

Arbeitsstelle Holocaustliteratur
Die Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Gießener Justus-Liebig-Universität wurde 1998 von den Germanisten Erwin Leibfried, Sascha Feuchert und der Licher Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung gegründet.
Ziel ist die literaturwissenschaftliche und -didaktische Untersuchung und Aufbereitung von Texten aus dem Holocaust. Die Schilderungen von Überlebenden stehen dabei im Mittelpunkt.An dem Forschungsprojekten sind rund zehn Wissenschaftler aus den Bereichen Germanistik, Geschichte und Soziologie beteiligt.
Informationen zur Arbeitsstelle Holocaustliteratur im Internet unter www.holocaustliteratur.de
Die Chronik
Die Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt (5 Bde.)
Herausgegeben von Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke. In Kooperation mit Julian Baranowski, Joanna Podolska, Krystyna Radziszewska, Jacek Walicki. Unter Mitarbeit von Imke Janssen-Mignon, Andrea Löw, Joanna Ratusinska, Elisabeth Turvold und Ewa Wiatr
Reihentitel: Schriftenreihe zur Lodzer Getto-Chronik (Hg. von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (Universität Gießen) und dem Staatsarchiv Lodz); 3052 Seiten mit 168 Abbildungen, im Schuber; ISBN-10: 3-89244-834-5
kro
Es ist die erste vollständige Edition eines der erschütterndsten Dokumente der NS-Herrschaft: In der von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur herausgegebenen Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt wird das Leben und Sterben von über 160.000 Juden in dem am längsten existierenden Großgetto der Nazis dokumentiert.

Der Tod von Litzmannstadt-Getto ist ein fremder, hässlicher Tod. Ihn will ich zeichnen, wie er ist. Keine Novellen, keine erdachten Geschichten", schreibt Oskar Singer 1942. Der 1944 in Auschwitz ermordete jüdische Schriftsteller ist einer der Hauptautoren der Getto-Chronik. Mehr als 15 Journalisten und Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen, die im Lodzer Getto eingepfercht waren, haben an dem 2000 Seiten starken Wert gearbeitet – Theologen genauso wie der österreichische Theaterkritiker Oskar Rosenfeld, der ebenfalls 1944 in Auschwitz getötet wurde.

Gezeichnet vom Hunger, dem alltäglichen Tod und der Gewalt im Getto ist so "einer der längsten und vielstimmigsten Texte der Holocaustliteratur" entstanden, sagt Germanist Sascha Feuchert von der Gießener Arbeitsstelle Holocaustliteratur, Koordinator des Chronik-Projekts.Mit einer unglaublichen Detailfülle und "tagesaktuell, wie in einer Zeitung, die allerdings keine Leser hatte" hätten die Autoren die grauenhaften Zustände im Getto der polnischen Stadt geschildert, die von den Nazis in "Litzmannstadt" umgetauft worden war.

Akribisch werden in den in polnisch und deutsch verfassten Texten Sterbefälle, Epidemien, Festnahmen und verteilte Essensrationen genauso aufgezeichnet, wie der tägliche Wetterbericht. Der seit 1941 auf Polnisch und Deutsch im Archiv der Verwaltung des "Judenältesten von Litzmannstadt-Getto" erstellte Text gibt Einblicke in die kursierenden Gerüchte und widmet selbst dem "Getto-Humor" eine eigene Rubrik. In kleinen Kolumnen werden Einzelschicksale festgehalten: Wie das der elfköpfigen Familie, nach der die Kripo fandet und zu spät kommt – weil alle bereits im Getto gestorben oder in Vernichtungslager deportiert worden sind. Oder der "Tod auf der Brücke" im Litzmannstadt-Getto, wo ein Insasse vor Entkräftung leblos zusammenbricht. zusammenbricht. Die drei Holzbrücken im Getto werden ab 1942 regelmäßig als Symbol für das Leid der Insassen in den Tagesberichten abgebildet, erzählt Feuchert. Denn die Chronik wird auch immer mehr zu einem Dokument des Widerstands, das die Namen vieler Opfer des NS-Terrors festhält. Dabei hätten die Autoren oft eine "Tarnsprache" eingesetzt, die aufwendig von dem sechköpfigen deutsch-polnischen Forscherteam entschlüsselt und kommentiert werden muss, berichtet der Germanist. "Aus Angst vor Repressalien, falls die Deutschen die Texte entdeckt hätten." Außerdem habe es eine interne Zensur gegeben, weil der von den Nazis ernannte "Älteste der Juden von Litzmannstadt" und Auftraggeber der Chronik Chaim Rumkowski wollte, das von ihm ein positives Bild überliefert wird.

Die Aufzeichnungen über den "Tod von Litzmannstadt-Getto" enden am 30. Juli 1944. "Auch der heutige Sonntag verlief sehr ruhig", heißt es trügerisch im letzten Eintrag. August wird das Getto von der SS aufgelöst. Die 70000 noch dort lebenden Juden werden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Nur etwa 3000 davon hätten den Holocaust überlebt, schätzt Feuchert. Insgesamt hätten zeitweise über 160000 Menschen im Lodzer Getto gelebt, allein etwa 145000 davon seien im 30 Kilometer entfernten Vernichtungslager Chelmno vergast worden.

Das Projekt wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit rund 270000 Euro gefördert. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Chronik hat rund fünf Jahre gedauert. Weltweit wurden in dem gemeinsamen Projekt von deutschen und polnischen Wissenschaftlern nahezu 6000 Typoskriptseiten mit Chronik-Varianten zusammengetragen, zueinander in Beziehung gesetzt und ausführlich kommentiert.

Wenn die abertausenden Ermordeten "schon keinen Grabstein haben, sollen sie wenigstens in einem Buch stehen", zitiert Feuchert die polnische Journalistin und Holocaust-Überlebende Hanna Krall.

Georg Kronenberg

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