Express Online: Thema der Woche | 30. August 2007

"Hätte ich das mal vorher gewusst ..."

Eine Handvoll Eindrücke vom diesjährigen Mittelaltermarkt im Schlosspark

Der Aufstieg zum Landgrafenschloss gestaltet sich bereits unter normalen Sommerbedingungen zur Herausforderung. Hat man aber dazu noch einen Schwung Kinderwagen und eine Horde Kurzer zur Hand, dann bleibt nur der Ritt mit der guten alten Linie 16. Blöd nur, dass das Gefährt als allerkleinstes Mitglied der Stadtwerke-Busfamilie dem sonntäglichen Andrang an Beförderungswilligen so ganz und gar nicht gewachsen ist. Doch schön, dass das kräftige Kerlchen an diesem Wochenende nachgerade zum Zeitmaschinchen mutiert. Denn über den Dächern Marburgs angelangt, hat sich die Zeit um schätzungsweise 800 Jahre zurückgespult.

Beim Mittelaltermarkt im Schlosspark, dem vierten in jährlicher Folge, gelten einfache Regeln. Wer unter Schwertmaß misst – das sind hier 1,40 m, mithin üblicherweise Knäbleyn und Mägdeleyn – kommt umsonst herein, allen anderen gilt die Aufforderung, die Geldkatze zu zücken und einen Salär von 5,- Talern springen zu lassen. Schnell bekommt man mit, dass das 5,- EUR sind, der Taler, und mit ihm der Silberling, aktuell auf einem umrechnungsfreundlichen Wechselkurs steht. Den Besuchern zum Nutzen, den Händlern zum Frommen.

Und diese bieten schon allerhand. "Schaut auf diesen Stein – solch Vogel soll es sein" erläutert ein verskundiger Bildhauer sein Metzwerk. Der Schmied dengelt derweil den ersten Glücksnagel des Tages. Hier ein Stand mit mittelalterlichen Accessoires, die durchaus im 21. Jahrhundert tragbar sind, dort hält man die "Rose von Jericho" feil, beliebtes Mitbringsel vom letzten Kreuzzug. Ein Esel schreit, "Gott zum Gruße, Herr Marktvogt", und "guck mal, da läuft ja schon die Elisabeth!". Fremdartig angenehme Gerüche kitzeln die Nase, Dudelsack- und Flötentöne wollen auch gehört werden. Damen in Seide flanieren vorbei, ein Galan präsentiert seine Schamkapsel, ein Aussätziger ebenso keck seine Bettelschale.

Hätte ich das mal vorher gewusst ...", beklagt sich ein neuzeitlicher Kunde, als er das Zelt der Handleserin verlässt. Doch damit meint er vermutlich seine kurze Lebenslinie. Denn kein Zweifel, die Veranstalter "Kramer Zunft und Kurtzweyl" verstehen sich auf ihr Geschäft. Und präsentieren ihr Spektakel mit erstaunlicher Schlüssigkeit. Das reicht von Kostümen und Ausstattung, den gespielten Szenen und schlagfertigen Dialogen mit den oftmals tumb staunenden Besuchern bis zum konsequenten Gebrauch eines auf mittelalterthümlich getrimmten Zungenschlages. Auch dem kritischen Laien fallen keine Ungereimtheiten auf, die die Illusion trüben würden. So kann man sich bedenkenlos und im besten Sinne vorgaukeln lassen, wie es mal hätte sein können.

Aber wenn dann am Ausgang jemand aus dem beklagenswerten, gerade eingetroffenen Haufen der Siechen noch schnell eine SMS verschickt, bevor das Handy unter den Lumpen verschwindet, ist man doch froh, wieder im Hier und Jetzt zu sein.

Michael Arlt

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