Express Online: Thema der Woche | 5. Juli 2007

Studierende verhalten sich wie Schüler

Der Soziologe Dirk Kaesler (62) hat als Dekan des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Marburger Philipps-Universität erfolglos für den Erhalt des Diplom-Studiengangs Soziologie geklagt. Der Express sprach mit dem Max-Weber-Experten über die neuen Bachelor- und Master-Studiengänge.

Express: Vor zwei Jahren sind die Bachelor- und Master-Studiengänge in Hessen eingeführt worden. Wünschen Sie sich Diplom und Magister zurück?
Dirk Kaesler: Natürlich. Ich bin ein engagierter Verteidiger des Diplom-Studiengangs. Aber ich habe kapitulieren müssen. Gegen die Einstellung des Soziologie-Diploms in Marburg habe ich als Dekan im Auftrag des Fachbereichsrates geklagt. Jetzt hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof die Klage zurückgewiesen und das Recht der Marburger Hochschulleitung bekräftigt, den Diplomstudiengang auch gegen den erklärten Willen der Fachvertreter einzustellen.

Express: Warum wollten Sie das Diplom behalten?
Dirk Kaesler: Ich halte den Diplom-Studiengang Soziologie für sehr gut. Er beruht auf einem anerkannten soziologischen Profil und hat den Standort Marburg ausgezeichnet.

Express: Was kritisieren Sie an den neuen Studiengängen?
Dirk Kaesler: Das Studium ist verschult worden. Studierende verhalten sich zunehmend wie Schülerinnen und Schüler. Sie planen die Semester nach teilweise sklavisch befolgten Stundenplänen. Sie haben nicht mehr die intellektuelle Freiheit, sich um interessante Themen zu kümmern. Jeder hat zumindest mental sein Rabattmarkenheftchen dabei. Da ist nicht vorgesehen, noch Veranstaltungen über Ethik in der Wissenschaft zu besuchen. Man ist ständig beim Sammeln der ECTS-Punkte. Dann wird ein Modul nach dem anderen abgehakt. Manche Studierende begrüßen das, weil sie alle Orientierungsprobleme hinter sich haben. Sie haben nun ein klar durch geregeltes Studium, das auf einen möglichst zügigen Abschluss abzielt.

Express: Also wird die Studiendauer verkürzt.
Dirk Kaesler: Ja, wenn man nur bis zum Bachelor studiert. Doch 70 Prozent aller Bachelor-Studenten wollen einen Master draufsetzen. Wenn sie das tun, verlängert sich die Studienzeit. Ein Diplom konnte man wirklich in vier Jahren schaffen. Der Master dauert mindestens fünf Jahre.

Express: Was bedeutet der Bachelor für Ihre Veranstaltungen?
Dirk Kaesler: Für die BA-Leute mache ich obligatorisch Klausuren. Das hat einen banalen Grund. Ich habe in meiner zentralen Veranstaltung über soziologische Theorien immer zwischen 100 und 150 Besucher. Die BA-Leute haben aber einen Rechtsanspruch darauf, bereits drei Wochen nach der Veranstaltung das Ergebnis zu erfahren. Würde ich 120 Seminararbeiten innerhalb von drei Wochen lesen müssen, würde das sogar meine Arbeitsfähigkeit übersteigen. Also schreiben sie zu unserer Arbeitserleichterung eine Multipal-Choice-Klausur in soziologischen Theorien.

Express: Wie viele sind gescheitert?
Dirk Kaesler: Etwa 60 Prozent.

Express: Was passiert mit denen?
Dirk Kaesler: Sie schreiben noch einmal eine Nachholklausur. Die meisten fallen da wieder durch, und das war's dann. Das ist vielleicht ein gewünschter Effekt. Man wollte doch ein zügigeres, erfolgreicheres Studium. Das kann ja nicht gemeint haben, dass alle bestehen. Durch die neuen Studiengänge in Kombination mit dem begrenzten Studienguthaben wird der Prozess des Aussiebens der Studierenden viel früher vollzogen.

Express: Sie haben ja einmal gesagt, dass ein Drittel der Studierenden an deutschen Hochschulen sowieso nicht für die Universität geeignet ist. Erspart dies nicht vielen ein jahrelanges Studium, das dann doch aufgegeben wird?
Dirk Kaesler: Ja, deswegen finden viele das großartig. Auch Kollegen sagen, dass wir dann diese Bummelstudenten und die Versager los sind. Und wir sind vor allem die Leute los, die ja letzten Endes nur deswegen auf die Uni gegangen sind, weil sie nicht wussten, was sie ansonsten machen sollten.

Express: Aber Sie sehen das kritisch.
Dirk Kaesler: Die so genannten Spätzünder sind schon draußen, bevor sie die Chance hatten, vielleicht doch noch gezündet zu werden. Manche von denen, die heute lehren, gehören dazu. Wären die schon im ersten Semester auf Herz und Nieren geprüft worden, ob sie wirklich wissenschaftlich motiviert und wissenschaftlich befähigt sind, gäbe es ein paar weniger. Man gibt diesen jungen Menschen quasi keine Chance, sich allmählich im universitären Umfeld zu orientieren. Zweites Problem: Was soll denn aus den Abbrechern werden, die dann so schnell wieder aus diesem akademischen System herausgespült worden sind? Hier sammelt sich lautlos sozialer Sprengstoff an. Darüber haben sich diejenigen, die die politische Verantwortung für diese Studiengänge tragen, keine Gedanken gemacht.

Interview: Gesa Coordes

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