Express Online: Thema der Woche | 7. Juni 2007

Am Rande des Kollapses

Führen die Justizreformen, insbesondere der Ab- und Umbau der Rechtsmittel in Deutschland, zu einer Demontage des Rechtsstaates und damit zu einer Demontage der Demokratie? Der Express sprach mit Hannes Kleinhenz, Richter und stellvertretender Richterrat a.D. am Amtsgericht Marburg.

Express: Was bewegt den Juristen Kleinhenz nach 32 Jahren Richtertätigkeit?
Kleinhenz: Die enorme Bedeutung einer funktionierenden unabhängigen Rechtsprechung, der sogenannten Dritten Gewalt in der Demokratie und ihre andauernde Gefährdung durch Sparmaßnahmen und Stellenstreichungen. Aus den Presseschlagzeilen der letzten Zeit liest sich das wie folgt: "Verwaltungsgericht Schwerin kippt Versammlungsverbot zum G8-Gipfel"; "Bundesverfassungsgericht kippt Koalitionsentwurf zur unterschiedlichen Behandlung von Unterhaltsansprüchen für die Kinderbetreuung durch geschiedene und nicht verheiratete Mütter"; "Der Bundesgerichtshof stoppt PC-Spionage durch die Polizei"; "80.000 Kinder von Verwahrlosung bedroht"; "Justizminister Banzer legt in Hessen die Sexualstraftäter an die Kette"; " Polizei wird durch gemeinnützige Polizeiunterstützungsvereine mit Fahrrädern und Nachtsichtgeräten gesponsert". All diese Zusatzmaßnahmen sind, wie es dann offiziell heißt, "kostenneutral, mit dem vorhandenen Personalbestand zu bewältigen", obwohl teilweise ein erheblicher Stellenabbau in Hessens Justiz erfolgt ist.

Express: Im Dezember 2006 besuchte der Hessische Justizstaatssekretär Schäfer die Gerichte des Landgerichtsbezirkes Marburg. Außer den Sorgen um Arbeitsplätze bei den MitarbeiterInnen der Justizbehörden im Zuge der Schließung von Gerichten fielen Schäfer keine grundlegenden weiteren Probleme auf. Was ist Ihr Eindruck, und was hat sich seit dem Besuch Schäfers geändert?
Kleinhenz: Die auf den Besuch des Justizstaatssekretärs folgende Berichterstattung in den Medien hat die tatsächlichen Zustände in der Justiz, vor allem am Amtsgericht Marburg, auf den Kopf gestellt und die Öffentlichkeit falsch informiert. Im Januar 2007 haben dankenswerterweise Personal- und Richterratsvertreter des Amtsgerichts Marburg ein völlig anderes Bild von den Zuständen in ihrer Behörde öffentlich gemacht.
Meiner Meinung nach steht die Hessischen Justiz am Rande des Kollapses, und die Justizbehörden, also Angestellte, Beamte, Richterschaft und RechtspflegerInnen gehen wegen ihrer permanenten Überlastung auf dem Zahnfleisch. Daran hat sich auch im letzten halben Jahr nichts verändert.

Express: Um welche Probleme geht es?
Kleinhenz: Die Sorge um den Arbeitsplatz ist z.B. am AG Marburg ein riesiges Problem, das nicht allein durch die Schließung von Gerichten verursacht wird, sondern vor allem durch die jahrelang andauernde Praxis entstanden ist, im Angestelltenbereich nur noch Kurzzeitarbeitsverträge von wenigen Monaten zu vergeben. Ich kenne Mitarbeiterinnen, deren Verträge auf diese Weise mehr als 20-mal verlängert worden sind. Unter ihnen gibt es alleinerziehende Mütter, die deshalb weder Anschaffungen noch Urlaube machen, geschweige denn planen können. Das ist kein Einzelfall und auch kein kleines Problem. Für die Motivation und Verfassung der MitarbeiterInnen wie für das Betriebsklima und das dauerhaft gute Funktionieren der Justiz ist das höchst problematisch.

Express: Schildern Sie die Problematik.
Kleinhenz: Zur Bewältigung der Arbeitsflut müssen die in der Justiz Beschäftigten seit langem erhebliche Überstunden leisten. Ohne diese Überstunden würde der Laden, salopp gesagt, nicht mehr richtig laufen. Vor allem RichterInnen mit halben Stellen kommen da leicht wöchentlich auf 30 und mehr Arbeitsstunden, ganze Stellen auf 50 und mehr Stunden. Die Terminzettel von Zivilrichtern sowie einzelner Strafrichter sind überfüllt. Die Belastungen beim Familien-, Insolvenz- und Betreuungsgericht sind erheblich. Die Aktenberge in manchen Dienstzimmern haben alpines Format. Dazu kommt, dass die Regierung Koch in Hessen allein im amtsgerichtlichen Bereich 109 Richterstellen und 19 Stellen bei der Staatsanwaltschaft gestrichen hat. Dass die in den Justizbehörden tätigen Menschen trotzdem außerordentlich hoch motiviert arbeiten, ist meiner Ansicht nach ein Wunder.

Express: Wie wirkt sich die Überbelastung der Justizbehörden auf die Dauer der Verfahren aus?
Kleinhenz: Hinweise der Verwaltung und auch des Staatssekretärs, dass ein Teil der Verfahren schnell erledigt wird, verschweigen, dass ein Großteil der sogenannten Altverfahren im Zivil- und Familienrecht sowohl in der ersten Instanz wie in den Rechtsmittelinstanzen wegen der anhaltenden Überlastung unzumutbar lange, in einzelnen Fällen auch Jahre dauern.

Express: Was sind die Ursachen dieser Überlastung?
Kleinhenz: Die Ursachen der seit Jahren kontinuierlich gestiegenen richterlichen Überbelastung beruhen z.B. im zivilrechtlichen Bereich seit September 1999 u.a. auf einer Flut neuer Gesetze, wie den Reformen des Miet-, Schuldrechtes und der Zivilprozessordnung oder z.B. der Neueinführung des Gewaltschutzgesetzes. Dazu kommen die Neueinführung der Insolvenzordnung mit inzwischen dramatisch gestiegenen Fallzahlen. Auch im Betreuungsrecht sind die Fallzahlen geradezu dramatisch gestiegen. Im Strafrecht beruht die Überlastung auf einer ständigen Erweiterung des Strafrahmens für das Amtsgericht. Dazu kommen generell richterliche Mehrbelastungen durch die allgemein veränderte Streitkultur, bei der in allen Bereichen einfach erbitterter gestritten wird. Die Prozesse sind materiell- und verfahrensrechtlich schwieriger und umfangreicher geworden. Speziell am Amtsgericht Marburg hat sich darüber hinaus die Einführung des zentralen Grundbuchs, Handels-, Vereins- und Genossenschaftsregisters belastungsmässig höchst negativ ausgewirkt.

Express: Welche Konsequenzen hat dies für den rechtssuchenden Bürger?
Kleinhenz: Dass sich diese Belastungen negativ auf die Qualität der richterlichen und rechtspflegerischen Arbeit und somit auch unmittelbar negativ für den Rechtssuchenden auswirken können, lässt sich nicht mehr leugnen und ist längst in Fachkreisen als gravierendes Problem erkannt.

Express: Zusammenfassend gefragt: Woran krankt die Justiz?
Kleinhenz: Die Justiz leidet unter dem Versuch, die allgemein verordneten Globalisierungs-, Effektivierungs-, Effizienssteigerungs- und Einsparungsversuche auf die Rechtsprechung zu übertragen. Eine unabhängige Rechtsprechung ist aber kein mechanischer und nach den Grundsätzen der freien Marktwirtschaft funktionierender Leistungsprozess. Gerechtigkeit ist keine Ware. RichterInnen sind keine Automaten, in die man Geld einwirft und dafür dann sofort ein Produkt erhält. Rechtsprechung braucht Freiräume, Zeit zum Denken und Unabhängigkeit. Die Freiräume einer starken und unabhängigen Justiz aus Kostengründen oder unter Leistungsgesichtspunkten zu beschneiden bedeutet, eine der drei Gewalten, auf die unsere Demokratie gründet, zu demontieren.

Express: Was ist zu tun?
Kleinhenz: Sachkundig und konkret müssen wir unsere ernsthaften Sorgen um den Verlust von Qualität und Rechtsstaatlichkeit einer unabhängigen Rechtsprechung herausarbeiten und deutlich artikulieren. Denn der Qualitätsverlust der Rechtssprechung führt zu Frust und fehlender Akzeptanz der Rechtsprechung durch die rechtssuchenden Bürger und stellt letztendlich eine Gefahr für die auf der Gewaltenteilung beruhende Demokratie dar. Mit dieser Herausforderung beschäftigen sich nicht nur RichterInnen am Amts- und Landgericht Marburg, sondern auch die in der Neuen Richtervereinigung, dem Richterbund und ver.di organisierten hessischen RichterInnen, Rechtsanwalts- und Notarverbände sowie der Bund Deutscher Rechtspfleger.

Express: Welche Strategien schlagen Sie vor?
Kleinhenz: Anstatt eine kosteneinsparende "Verringerung der Bearbeitungstiefe" in juristischen Verfahren de facto herbeizuführen und zu riskieren, müssen hier alle erdenklichen Anstrengungen unternommen werden, dass dies nicht passiert. Das bedeutet nicht, dass alle Reformbestrebungen abzulehnen sind. Aber sie müssen eben sorgfältig durchdacht sein und den rechtsstaatlichen Grundsätzen unserer Verfassung und Demokratie entsprechen. Wer dazu nicht bereit ist – aus welchen Gründen auch immer -, der muss der Öffentlichkeit, die darauf einen Informationsanspruch hat, reinen Wein einschenken und sagen, dass er die Kosten für eine effiziente und verfassungsgemäße Rechtsprechung in der bisherigen Form nicht tragen will, und dass die BürgerInnen Einschränkungen ihrer Rechte und der Qualität der Rechtssprechung hinnehmen müssen.

Express: Welche Schlüsselthemen erscheinen Ihnen zur weiteren Vertiefung in diesen Fragen wichtig?
Kleinhenz: Erstens: Selbstverständlich wird sich niemand notwendigen Reformen verschließen; auch die Berufsverbände wollen das nicht, die Reformen müssen aber unbedingt Qualität, Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewährleisten.
Zweitens: Der immer wieder auch für die Sparmaßnahmen in der Justiz beschworene Geldmangel kann so nicht hingenommen werden, denn ich vermisse in den Begründungen für diese Sparmaßnahmen: Zum einen ausreichende Darlegungen über die Einnahmeseite der Justiz nach erheblichen Gebührensteigerungen z.B. im Zivilrecht sowie in der Freiwilligen Gerichtsbarkeit ( Grundbuch, Erbscheine und sonstige Eintragungskosten in Registern ) und zu dem bekannten Umstand, dass der Anteil des hessischen Justizetats im Landesgesamthaushalt nur 2 bis 3 % beträgt. Und zu allem Überfluss rechtsprechungsfremde Kosten, wie die des Strafvollzuges und Ausbildungskosten mit enthält und das Einsparungspotential im Justizbereich gering und im Verhältnis zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der Justiz unverhältnismäßig ist.
Zum anderen die von allen Rechnungshöfen und anderen Verbänden vehement und offensichtlich berechtigterweise geforderten Maßnahmen zur Eindämmung von Verschwendung durch öffentliche Behörden, Wahrung der Steuergerechtigkeit ( ausreichende Steuerprüfungen und Einzug aller unterschlagener Steuern einschließlich des Mehrwertsteuerbetruges in großem Maße ), Vermeidung des Eurosubventionsbetruges, Bekämpfung von ungerechtfertigtem Lobbyismus mit seinen inzwischen offenbar gewordenen Schädigungen für die Finanzen der Öffentlichen Hand.

Express: Stichwort Stellenabbau.
Kleinhenz: Seit 1974 beobachte ich einen unverantwortlichen Stellenabbau in der Hessischen Justiz und den damit verbundenen ständigen Streit über den ansteigenden Fehlbedarf an Richtern und Staatsanwälten. Streitig war bisher nur, wieviel hunderte zusätzlicher Stellen wirklich fehlen. Die im wahrsten Sinne des Wortes "braven Staatsdiener", nämlich die RichterInnen und StaatsanwältInnen, haben dabei ohne Murren die jeweilige Mehrarbeit erledigt und dafür nur die Reaktion erhalten: "Na ,es geht doch." Keine der in der jeweiligen Opposition befindlichen Parteien hat bei Übernahme von Regierungsverantwortlichkeit ihre früheren oppositionellen Versprechen, hier für Hilfe zu sorgen, eingelöst.
Negativer Höhepunkt in diesem Trauerspiel ist es dann der schon genannte Fall, dass Ministerpräsident Koch und sein Fachminister in Kenntnis dieser Missstände alleine bei den Amtsgerichten bis Ende 2006 insgesamt 109 Richterstellen und bei den Staatsanwaltschaften 19 Stellen gestrichen haben. Selbst nach den Berechnungen der von der hessischen Regierung eingesetzten Arbeitsgruppe zur Personalbedarfsberechnung ( sog. "Pebby Studie ) fehlen zur Zeit 128 RichterInnen-Stellen. Dass beim AG Marburg inzwischen eine zusätzliche RichterInnen-Stelle angekündigt – aber noch nicht tatsächlich eingerichtet – ist, ist erfreulich. Aber doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, der die hier angesprochenen Probleme der Justiz nicht beseitigt.
Die größten Sorgen bereitet mir allerdings das offensichtliche Fehlen von rechtsstaatlichem Denken und Selbstverständnis auf der Basis des Grundgesetzes bei vielen Sicherheitsfanatikern in Politik und der allgemeinen Öffentlichkeit. So zum Beispiel die Auffassungen von Schäuble, Schily und dem Leiter des Bundeskriminalamtes zu den vom BGH gestoppten online/privaten PC-Durchsuchungen.

Express: Ihr Fazit?
Kleinhenz: Meine Hoffnung ist, dass die vorliegende Ausführungen und die zahlreichen Stellungnahmen von Berufsverbänden wie z.B. auch die der Polizeigewerkschaften als konstruktive und positive Kritik verstanden und behandelt werden, dass die verantwortlichen Entscheidungsträger sich mit den Sachproblemen inhaltlich auseinander setzen, dass sie zukünftig die Öffentlichkeit richtig informieren und nicht in polemische Schmähkritik ausweichen. Es darf nicht sein, dass z.B. ein Minister die Demonstrationen der Polizeigewerkschaft öffentlich als das Werk von Krakeelern bezeichnet.

Interview: Thomas Gebauer

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