Express Online: Thema der Woche | 5. April 2007

"Erschütternde Lebenslagen"

Ein internationales Forschungsprojekt spürt "vererbter Armut" nach. Dafür wurden in Gießen 250 Einzelinterviews mit größtenteils arbeitslosen Jugendlichen im Alter von 24 bis 29 Jahren gemacht.

Der Projekttitel "Profit" sei zunächst vielleicht etwas irreführend, räumte der im vergangenen Jahr in den Ruhestand verabschiedete Professor für Politische Ökonomie, Dieter Eißel ein, als er am letzten Mittwoch zusammen mit seiner Assistentin Carmen Ludwig erste Ergebnisse eines nun zuende gehenden 3-jährigen länderübergreifenden EU-Forschungsprojektes der Öffentlichkeit vorstellte. "Profit" steht in diesem Fall für "Policy Responses overcoming factors in the intergenerational transmission of inequalities." und beschäftigte sich neben Deutschland auch in Polen, Großbritannien, Italien, Finnland, Estland, Litauen und Bulgarien mit der sogenannten "vererbten Armut" und Ungleichheiten in mittelgroßen Städten wie Gießen. "Vererbte Armut" meint, in welchem Umfang Jugendliche, deren Eltern schon von Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung betroffen waren dieses Schicksal später teilen.

Die Untersuchung, in der Gießen die für den deutschen Teil betrachtete Stadt war, erstreckte sich auf die drei Bereiche Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik und Bildungspolitik. In einer ersten Phase wurden die sogenannten "Eliten" aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene zur Einschätzung dieses Problems befragt, dem folgten sogenannte Gespräche mit Fokusgroups.

Insgesamt 250 Einzelinterviews mit größtenteils arbeitslosen Jugendlichen im Alter von 24 bis 29 Jahren führten schließlich die studentischen Teilnehmer eines Seminars von Prof. Eißel durch. "Für meine Studierenden war es zum Teil sehr erschütternd von diesen Lebenslagen, die sie überwiegend nicht kennen etwas mehr zu erfahren", so Eißel. Carmen Ludwig und Corinna Zakikhany führten die insgesamt 15 Tiefeninterviews mit Jugendlichen aus den sogenannten "sozialen Brennpunkten" der Stadt.

Fast alle betroffenen Jugendlichen haben den Wunsch, einen anständigen Arbeitsplatz zu bekommen.", so Eißel. Hauptgründe für Misserfolge auf dem Arbeitsmarkt sind oft ein zu schlechter Schulabschluss und der Wohnort der Jugendlichen. Positiv hob Eißel die Bedeutung sozialer Einrichtungen wie Zaug und der Jugendwerkstatt in Gießen hervor, ohne sie stünden die Chancen für viele Jugendliche aus armen Familien sehr viel schlechter. Dort wo Gewalt, Alkoholprobleme, Scheidung oder Krankheit im Elternhaushalt auftraten, kommt der Schule und einzelnen sehr engagierten Lehrkräften eine besondere Aufgabe in der Erziehung zu. "Ich habe viel Zeit in der Schulbibliothek verbracht, zuhause hatten wir nur die Bibel und das Gesangsbuch. Die vielen Bücher haben mich fasziniert. Meine Lehrer haben mich sehr unterstützt. Ich erinnere mich, dass einer meiner Lehrer organisiert hat, dass ich mehr Bücher als üblicherweise erlaubt aus der Bibliothek ausleihen durfte. Ich durfte fünf Bücher ausleihen statt zwei. Nur die Intervention meiner Lehrerin hat die Haltung meiner Eltern gegenüber dem Gymnasium verändert. Meine Eltern wollten nicht, dass ich dorthin gehe", so ein Betroffener im Tiefeninterview. Gefragt, was sich am Unterricht verbessern lassen könnte, kam häufig die Forderung nach längerem gemeinsamen Unterricht und Ganztagsschulen, so Ludwig.

Die länderübergreifenden Ergebnisse aus den Tiefeninterviews liegen bislang noch nicht vor. Am 12. April fliegt die Delegation das nächste Mal noch Lodz, wo die Gesamtleitung für das Projekt liegt. Erste Ergebnisse finden sich auch bereits auf der Homepage www.profit.uni.lodz.pl.

Martin Falge

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