Express Online: Thema der Woche | 15. Februar 2007

Peitschen, Schläge, Ohrfeigen

Dr. Dr. Joachim Kahl
Der gebürtige Kölner lebt und arbeitet in Marburg als freiberuflich tätiger Philosoph mit einem Arbeitsschwerpunkt "Religionskritik". 2006 erschien sein jüngstes Buch "Weltlicher Humanismus. Eine Philosophie für unsere Zeit" in zweiter Auflage im LIT-Verlag. Am Dienstag, 6. März hält Joachim Kahl in der Marburger VHS einen Vortrag zum Thema "Elisabeth", in dem die Position des Interviews ausführlich begründet wird.
Der Marburger Philosoph und Religionskritiker Joachim Kahl warf einen Blick auf die dunkle Seite des Elisabeth-Kults. Und entdeckte abstoßende Details hinter der frohmachenden Perspektive.

Express: Sie sehen von zu Hause aus den Wilhelmsturm mit dem Elisabeth-Lichtkunstwerk "Siebensiebenzwölfnullsieben". Haben Sie es schon zum Leuchten gebracht?
Joachim Kahl: Als wir Gäste hatten, haben wir uns den Spaß gemacht, die "magische Geburtstagszahl" zu wählen und den "Liebesbeweis" getestet. Das ist eine nette Idee zur Förderung der Stadt, was mir auch am Herzen liegt. Im Sinne der Elisabeth ist es natürlich unsinniger, weltlicher Tand. Mich stört der Rummel und vor allen Dingen das historisch Unwahre. Elisabeth wird nicht in ihrer Zwiespältigkeit und in ihren abstoßenden Einzelheiten wahrgenommen, sondern schöngefärbt und schöngeredet.

Express: Können Sie Beispiele dafür geben?
Joachim Kahl: Das Zitat, mit dem die Stadt zu Gunsten der Elisabeth wirbt, ist das historisch verbürgte "Wir wollen die Menschen froh machen". Darunter stellt man sich heutzutage – inspiriert durch einen hedonistischen Zeitgeist – etwas ganz anderes vor. Denn ihre frohmachende Perspektive war eine jenseitsbezogene, die durch das Leid und das Wühlen im Leid auf dieser Welt hindurchging. So befahl Elisabeth beispielsweise, einer jungen Frau die schönen langen Haare abzuschneiden. Als herauskam, dass dies aufgrund einer falschen Anschuldigung geschah, hat Elisabeth geantwortet: Dann kann sie wenigstens nicht mehr auf Tanzveranstaltungen gehen. Daran sieht man, welche lust- und körperfeindliche Grundhaltung sie beseelte.

Express: Sie nahm sich selbst davon nicht aus. Sie hat sich geißeln lassen ...
Joachim Kahl: Auspeitschen lassen, so muss man es drastisch formulieren, schon auf der Wartburg. Um dem "sündigen Fleischestrieb" im Ehebett zu entkommen, hat sie sich wiederholt nachts wecken lassen und in einem ferner gelegenen Raum – damit der Ehemann nicht durch ihre Schreie gestört würde – von ihren Mägden auspeitschen lassen. Später hat sie ausgerechnet als Beichtvater Konrad von Marburg genommen, einen großen Sadisten innerhalb der Kirchengeschichte – Kreuzzugsprediger, Ketzerverfolger und Hexenjäger. Von ihm ließ sie sich einmal so heftig auspeitschen, dass die Striemen noch länger als ein Vierteljahr auf ihrem Körper zu sehen waren.

Express: Was ist für Sie Positives an der historischen Elisabeth?
Joachim Kahl: Positiv ist, dass sie tatsächlich fragwürdige Seiten des höfischen Lebens und des adligen Wohlstandes erkannt hat und, wenn auch keine subversive, so doch eine aussteigerhafte Haltung dem gegenüber eingenommen hat. Sozusagen im Rahmen eines individuellen Konsumverzichts. Die – allerdings weit überschätzte und überhöhte – Haupttat ist die Gründung eines Marburger Hospitals. Sie ist mit ihrem Namen untrennbar verbunden. Aber das kann nicht die Gloriole rechtfertigen, mit der sie umgeben wird.

Express: Es wird gefordert, die Elisabeth heutzutage auch jenseits aller Glorifizierung darzustellen. Wem nützt das eigentlich, eine menschliche Elisabeth?
Joachim Kahl: Die historisch korrekte Darstellung nützt dem allgemeinen Wahrheits- und Geschichtsbewusstsein. Wir brauchen Vorbilder. Aber wir brauchen keine Heroisierungen, keine Glorifizierungen und keinen Heiligenkult. Insofern ist eine auf ihre menschliche Realität zurückgeführte Elisabeth in keiner Weise ein Vorbild. Das elisabethanische Frauenideal ist ausgesprochen anti-emanzipatorisch und geradezu reaktionär. Wir bauen Frauenhäuser, wohin sich geprügelte Frauen retten können, und Elisabeth sucht selbst Schläge und Ohrfeigen.

Express: Elisabeth wird als populäre Heilige beschrieben, als beliebte Volksheilige, der österreichische Schriftsteller Friedrich Heer spricht von einer der "zartesten, innigsten, liebenswertesten" Heiligen des Mittelalters. Stimmt das im historischen Zusammenhang?
Joachim Kahl: Es haben sich schon sehr früh Legenden gebildet. Das Faszinosum war ihre hochadelige Herkunft. Sie war eine Königstochter, insofern tatsächlich eine singuläre Gestalt innerhalb der damaligen Realität, die von den höchsten Höhen des Adels in den Schweinestall hinabgestiegen ist. Das ist ein faszinierendes Schicksal, aber nicht mehr. Denn was soll man daraus für eine Schlussfolgerung ziehen, welche Lehre ableiten? Das ist ein voyeuristisches Interesse, wie man eine tragische Wandlung erleben kann. Aber nicht ein in der Wirklichkeit verallgemeinerungsfähiges menschliches Vorbild. Ein weiteres Stichwort ist der Reliquienkult ...

Express: Der fing sehr früh an, ihr Leichnam wurde regelrecht zerrissen ...
Joachim Kahl: Es ereigneten sich unglaubliche Dinge am Grab, auch geradezu eine makabre Erotik: Frauen schnitten ihr die Brustwarzen ab. Das sind fetischistische, vulgärmaterialistische und abstoßende Details. Und ein weites Feld für frommen Betrug. Die angeblichen Knochenstückchen von Elisabeth würden viele Elisabeths ergeben. Insofern war es eine kulturrevolutionäre Tat von oben, als Landgraf Philipp 1539 den Schrein der Elisabeth gewaltsam öffnen ließ, um diesen Fetischismus zu beenden. Nämlich die Wahnvorstellung, ein Knochenstückchen oder ein Mantelpartikel einer verstorbenen Frau würde irgendetwas für uns Heilsames bedeuten.

Express: Was hat man aus Ihrer Sicht beim diesjährigen Elisabeth-Jubiläum verpasst?
Joachim Kahl: Man hätte mehr auf die historisch tatsächlichen Abläufe hinweisen sollen. In den verschiedenen Elisabeth-Büchern, die jetzt erscheinen, wird nur in Nebensätzen auf die dunkle Seite und die abstoßenden Einzelheiten hingewiesen. Aber der Teufel steckt im Detail, und die Wahrheit ist konkret. Weshalb küsst Elisabeth die Aussätzigen auf ihre Wunden? Welchen medizinisch-therapeutisch hilfreichen Zweck soll das haben? Keinen. Es dient nur ihrer eigenen, exaltierten, irregeleiteten Religiosität. Sie wollte durch solche Selbsterniedrigung und Selbstdemütigung ihren eigenen Weg zum Herrn im Himmel beschleunigen. Das eigentlich Tragische und so wenig Vorbildliche ist, dass sie bereits als 24-Jährige gestorben ist. Was hätte sie mit ihren achtbaren philanthropischen Impulsen noch zu Gunsten der Leidenden tun können, wenn sie Nächstenliebe mit Sinn und Verstand praktiziert hätte! Und sich auch selbst geliebt hätte. Sie war, modern gesprochen, ausgebrannt. Sie wollte helfen, aber verfiel dem Helfer-Syndrom und half kopflos, wo immer sie Elend sah. Ohne Strategie oder durchdachte sozialtherapeutische Perspektive. Insofern kann man von ihr lernen. Aber mehr, wie man es nicht machen soll.

Interview:Michael Arlt



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