Express Online: Thema der Woche | 11. Januar 2007

Spurlos

Verschwunden
Täglich verschwinden Menschen in Deutschland. Viele tauchen nach kurzer Zeit wieder auf, die meisten lebendig, manche tot. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) galten zum Jahresanfang 7643 Menschen als vermisst, davon mehr als ein Drittel Kinder. "Erfahrungsgemäß erledigen sich 50 Prozent der Fälle innerhalb einer Woche", sagt ein BKA-Sprecher. Nach einem Monat sei der Verbleib von immerhin 80 Prozent der vermisst gemeldeten aufgeklärt. Nach einem Jahr fehlt nur von drei Prozent noch jede Spur.
sae
Ein Gießener Student verschwindet kurz vor Weihnachten. Eltern und Freunde sind ratlos, die Polizei sucht ihn fieberhaft mit Hubschraubern, Spürhunden und Tauchern. Doch je mehr die Beamten ermitteln, desto seltsamer wird der Fall.

Auf dem Tisch stehen noch eine angebrochene Lebkuchenschachtel und ein leeres Saftglas. Die Bettdecke ist zerwühlt, die Tür des Kleiderschranks halb offen. Es scheint, als sei Geert Steffens am Morgen noch in seinem WG-Zimmer in der Wilhelmstraße aufgewacht und nur mal eben 'rüber zu einer Vorlesung in die Uniklinik. Doch der 24-jährige Medizinstudent ist seit rund drei Wochen verschwunden, seither gibt es kein Lebenszeichen, keine Nachricht von ihm, sein Handy ist abgeschaltet.

Es war Freitagnacht auf Samstag vor Heiligabend, als Geert Steffens verschwand. Mit seinem besten Kumpel Nelson war er in der Gießener Diskothek Agostea. "Geert war wie immer lässig drauf. Da war nichts Ungewöhnliches", erinnert Nelson sich. Gegen Viertel nach drei, rekonstruierte die Polizei, habe eine Freundin ihn an der Theke gesehen. Er habe sie gebeten, ihn heimzufahren. Eine Videoaufnahme zeigt, wie Geert die Diskothek nach vier Uhr verlässt. Betrunken. Und alleine.

Als Geert am Heiligabend nicht bei seinen Eltern in Langgöns erscheint, schalten diese die Polizei ein. Seither läuft die Suche nach dem jungen Mann. Unfall, Flucht, Selbstmord oder Verbrechen? "Wir ermitteln in jede Richtung", sagt Polizeisprecher Werner Tuchbreiter, "denn wir haben keine Anhaltspunkte".

Auch nicht jene Autofahrerin, die sich vor einigen Tagen bei der Polizei meldete und aussagte, Steffens am Neujahrstag im Vorbeifahren in der Nähe von Ober-Bessingen bei Lich gesehen zu haben. Die Polizei nahm die Aussage "sehr ernst", zumal bei einer Ortsbefragung zwei weitere Frauen unabhängig voneinander berichteten, einen Mann gesehen zu haben, dessen Aussehen auf die Beschreibung Steffens' passte. Inzwischen steht fest: Das war nicht Steffens, sondern ein Partyheimkehrer.

Mit Hubschraubern, Tauchern und Spürhunden fahndete die Polizei zwischenzeitlich nach dem Vermissten. Allein 15 Polizeitaucher aus Kassel, Offenbach und Mühlheim suchten die Lahn zwischen Gießen und Lahnau ab. Die Hunde fanden sogar eine Fährte ins benachbarte Heuchelheim. Dort, in der Wilhelmsstraße, zwischen der Hausnummer 50 und 60 verliert sich die Spur. Befragungen der Anwohner durch die Polizei brachten keinen Hinweis. Und auch die letzte große Suchaktion blieb ohne Erfolg: am Freitagvormittag vergangener Woche war noch einmal ein Polizeihubschrauber rund um Ober-Bessingen im Einsatz – um zu klären, ob in Wochenendhäusern oder Waldhütten Spuren von Steffens zu finden sind.

Die Kripo sucht nun nach weiteren Zeugen, die den Studenten in der Nacht seines Verschwindens gesehen haben: vier junge Frauen, die Steffens nach der Auswertung der Überwachungskamera kurz nach halb fünf Uhr morgens vor der Disco angesprochen hat, ein Mann in dunkler Bekleidung, der zeitgleich die Disco verließ.

Dass Geert vorsätzlich abgehauen sein könnte, für seine Freunde und Familienangehörigen klingt dies abwegig. Sein Onkel Udo Steffens sagt: "Man martert sich, sucht nach Zeichen in diesem jungen Leben, ob man etwas übersehen hat – aber da ist nichts." Auch Geerts Mitbewohner Tobias und Michael berichten: Ihr "Geerti" sei zuverlässig, fröhlich und gesellig gewesen, kein Typ, der abhaut. Außerdem habe er am Abend seines Verschwindens sein Portemonnaie zu Hause vergessen und daher weder Ausweispapiere noch Geld oder EC-Karte bei sich, so Tobias.

Zusammen mit rund 30 Freunden, Bekannten und Verwandten haben Tobias und Michael in den vergangenen Tagen in Gießen, Marburg und Frankfurt mehr als 500 Suchplakate aufgehängt und 2000 Handzettel verteilt. Die Fachschaft Medizin stellte außerdem alle Pressemitteilungen der Polizei ins Netz und bittet in großen Lettern: "Bitte helft mit, wir vermissen unseren Kommilitonen." Tobias sagt, er müsse etwas tun, könne nicht tatenlos zu Hause sitzen. Seit drei Jahren sei er nun mit Geert befreundet, studiere mit ihm und spiele in der selben Fußballmannschaft, dem TSV Langgöns. "Man kann eigentlich nur hoffen, dass uns irgendetwas verborgen blieb und er doch abgehauen ist." Und Michael erzählt: "Neulich knarrte die Treppe. Es klang ganz nach Geert. Ich bin sofort hingeeilt – doch er war es nicht".

Stefan Säemann/Georg Kronenberg



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