Express Online: Thema der Woche | 7. Dezember 2006

"Neue Formen von zivilem Ungehorsam"

Martin Keßler
Der 53-jährige Filmemacher studierte Geschichte, Germanistik, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften in Marburg und Berlin. Seit 2001 unterrichtet er als Lehrbeauftragter an der Phillips-Universität Marburg.
Schwerpunkte seiner Arbeit als Filmemacher und freier Fernsehjournalist seit Mitte der 80er Jahre sind Berichte, Reportagen, Dokumentationen zu Sozial- und Wirtschaftsthemen, u.a. für ARD, ARTE, ZDF, WDR, HR.
Im Herbst 2003 hat der Filmemacher mit einer dokumentarischen Langzeitbeobachtung sozialer Proteste in Deutschland begonnen. Für seinen ersten Film "Neue Wut"über die Protestwelle gegen Hartz IV begleitete Keßler über ein Jahr lang Menschen in ganz Deutschland, die gegen zunehmende Einschnitte ins soziale Netz Front machen. Keßler: "Um zu zeigen, wohin sie ihre Wut treibt und ob aus all dem eine neue soziale Bewegung entsteht." Mit dem Film war Keßler monatelang auf Deutschlandtournee: in Kinos, Bürger- , Gewerkschaftshäusern und Kirchensälen.
"Kick it like Frankreich" ist die zweite Dokumentation im Rahmen seiner Langzeitbeobachtung sozialer Proteste. Dabei hat das Filmteam den hessischen Studentenprotest von Anfang an begleitet, Keßler ist mit seiner Kamera dabei, wenn in Frankfurt, Wiesbaden, Gießen oder Marburg demonstriert wird, Autobahnen oder Bahnhöfe blockiert werden, zeigt die Reaktionen von Polizei und Politik.
Vorführungen:
Mi 13.12.: Martin Keßler zeigt "Kick it like Frankreich"um 19.30 Uhr in Gießen im Zeughaus, Senekenbergstrasse 3.
Do 14.12.: "Kick it like Frankreich" wird um 20:00 Uhr im Audimax der Marburger Universität gezeigt.
Vollversammlung
Am 12.12. findet um 20:00 Uhr im Marburger Audimax eine Vollversammlung statt mit
Infos zur Unterschriftenkampagneüber die Verfassungsklage gegen die von der CDU-Regierung beschlossenen Studiengebühren. Insgesamt werden in Hessen 43.308 Unterschriften benötigt, um den Staatsgerichtshof mit der Prüfung zu beauftragen, ob allgemeine Studiengebühren mit der hessischen Verfassung vereinbar sind. In Marburg wurde die Unterschriftenkampagne Ende November gestartet. Die fertig ausgefüllten, in Gegenwart einer Amtsperson im Stadtbüro unterschriebenen und abgestempelten Formulare nehmen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Stadtbüros direkt entgegen. Weitere Infos: www.verfassungsklagebildung.de
Georg Kronenberg
Dokumentarfilmer Martin Keßler über die hessischen Studentenproteste gegen die Einführung von Studiengebühren und neue Netzwerke sozialer Opposition.

Express: Sie sprechen in ihrer Dokumentation von einen "Aufstand der Studenten" ist das nicht sehr hochgegriffen?
Keßler: Das glaube ich nicht. Die Demonstrationen hatten eine andere Vehemenz als früher. Bahnhöfe sind besetzt worden, Autobahnen blockiert. Das ist zum Beispiel 2003 bei den Protesten gegen die Langzeitstudiengebühren nicht passiert. Und gerade vergangene Woche waren in Frankfurt wieder hunderte Studierende und Schüler auf der Straße und haben anschließend die Agentur für Arbeit besetzt. Das sind neue Formen von zivilem Ungehorsam, die man vorher so nicht hatte.

Express: Nach dem Vorbild Frankreich?
Keßler: Ja. Auch wenn das ist sicher noch nicht zu vergleichen ist, mit den erfolgreichen Massenprotesten in Frankreich im vergangenen Frühjahr, die bei vielen aktiver Studenten wohl Vorbild sind. Aber man kann sehen, dass sich auch hier in Deutschland was bewegt.

Express: Tatsächlich? Bewirkt hat der inzwischen abebbende Protest gegen die Studiengebühren aber nichts. Die Landesregierung ist hart geblieben.
Keßler: Als Reaktion auf die Protestwelle gegen Studiengebühren hat die Koch-Regierung immerhin einige Abstriche im Gesetzentwurf vorgenommen. Zum Beispiel dass ausländische Studierende nicht mehr bis zu 1.500 Euro pro Semester bezahlen müssen, wie zunächst geplant, sondern 500 Euro.
Der Haupteffekt der bisherigen Proteste ist aber die Politisierung eines Teils der Studentenschaft. Ich glaube deshalb auch nicht, dass der Protest bald vorbei ist. In Frankfurt sind in jüngerer Zeit auch die Schüler immer stärker aktiv, an vielen Schulen hat es Vollversammlungen gegeben.
Und nachdem das Gesetz ja inzwischen beschlossen wurde, setzten die Studenten auf andere Formen des Widerstands. Etwa in Form einer "Verfassungsklage von unten" gegen das Studienbeitragsgesetz, für dieja nicht nur Studierendenvertretungen, sondern auch Elternverbände, Schülerverbände, Gewerkschaften, Kirchen, ganz viele unterschiedliche Organisationen mobil machen. Genau das ist aus meiner Sicht eine neue Qualität: dass bei den Protesten immer mehr gesellschaftliche Gruppen am einem Strang ziehen.

Express: Was für Sie ein Indiz dafür ist, dass sich in Deutschland ein neues Netzwerk von sozialer Opposition entwickelt, weil immer mehr Menschen erkennen, dass ein Teil der Bevölkerung sozial ausgeschlossen ist.
Keßler: Beispiele dafür gibt es genug. Bei den Hartz IV-Protesten haben Leute von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung, mit Leuten von Attac oder Verdi vor Ort soziale Bündnisse geschlossen."Kick it like Frankreich" zeigt die Ansätze, wie Studierende etwa mit dem DGB zusammenarbeiten. Was auch sehr widersprüchlich ist und schwierig, weil es sehr unterschiedliche Protestkulturen bei Studierenden und Gewerkschaftlern gibt. Aber ich glaube, dass diese Entwicklung weitergeht.

Interview: Georg Kronenberg



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