Express Online: Thema der Woche | 14. September 2006

Models und Maschinen

Schaulaufen vorm Discounter: Miss-Wahlen in Gießen

Miss Gießen" kommt aus dem tiefen Taunus. Agatha Toth, 21 Jahre jung, gertenschlank, braune Haare, braune Augen, wirkt natürlich und hat zugleich dieses graziöse Etwas. Es ist ihr zweiter Schöhnheitswettbewerb – und ihr zweiter Sieg: 2005 war die junge Idsteinerin bereits "Miss Taunus". "Meine wahre Leidenschaft ist aber die Architektur. Die Miss-Wahlen sind nur ein Hobby.", antwortet die Studentin selbstbewusst auf die Frage nach einer möglichen Zukunft als Model. Immerhin qualifiziert der Miss-Gießen-Titel sie für die Miss-Hessen-Wahl, und die wiederum für "Miss-Germany".

Dreizehn Konkurrentinnen hat die hübsche Agatha soeben bei der Wahl zur Miss-Giessen-2006 in der Einkaufsmall "Galerie Neustädter Tor" in den Schatten gestellt. Der Laufsteg steht vor einem Discounter und neben einer Rolltreppe, mit Rennflitzern und aufgetürmten Reifen dekoriert. Davor sitzen auf dem Boden kleine Kinder mit buntbemalten Gesichtern, als warteten sie aufs Kasperletheater. Der Schönheitswettbewerb versprühe so viel Glanz und Glamour wie eine Produkt- und Werbepräsentation in der Fußgängerzone, lästert ein junger Mann. Obendrüber lehnen Menschen am Geländer, die Einkaufstüten zu Füßen, und werfen einen Blick auf die vierzehn Damen.

Die heißen neben Agatha auch Katharina oder Sofia, Elena oder Janine, sind zwischen 18 und 26 Jahre jung. Arbeiten als Arzthelferin, Kellnerin, Zahnarzthelferin oder Altenpflegerin. Ihre Hobbys: Tanzen, Shoppen, Kino, Reiten, Fahrradfahren, Backen, Gartenarbeit oder Telefonieren.

Nur eine kommt aus Gießen selbst. Viele tingeln von einer Misswahl zur anderen. Die 26-jährige Jeanette Reichert dagegen hat heute ihre Laufsteg-Premiere. "Bisher habe ich nur bei Friseuren Modell gestanden", erzählt sie hinter der Bühne und nippt nervös an ihrem Sektglas. Auch Architekturstudentin Agatha hat in der Vorstellungsrunde von sich erzählt. "Ich tanze gerne Salsa und spiele Klavier".

Das Kurzinterview ist mehr als ein Warm-up für den Schaulauf. Was die jungen Frauen über sich erzählen, ist für Jury-Mitglied Alexander Schmitt, den "Mister Hessen 2001", entscheidend. "Ich warte immer, bis ich jemanden gehört habe. Aus manchem Schneewittchen wird da ein Aschenputtel." Jury-Kollege DJ Erol outet sich: "Die eine, die etwas tollpatschig lief, fand ich süß." Ansonsten bewerteten die fünf Jurymitglieder den optischen Ausdruck, die Ausstrahlung und die Figur. "Immer aus der Perspektive, ob jemand das Zeug zur Miss-Germany hat", erklärt DJ Erol. Sein bisheriger Geheimtipp: die Nummer zwei. Die Siegerin in spe Agatha hat die Nummer 14.

In zwei Durchgängen heisst es eine gute Figur zu machen: Zuerst im langen Abendkleid, dann im pinken Badeanzug stöckeln die Damen in High-Heels übern Laufsteg. Manche leichtfüßig-elegant, andere plump-stampfend. Vor der Jury drehen sie die Hüfte zur Seite und setzen dazu ein Lächeln auf, über das sich jeder Fotograf freut. Ein drahtiger Anfangvierziger stichelt: "Naja, im Publikum sind hübschere". Auch der Moderator Lutz Riemenschneider rollt schon mal unwillkürlich die Augen nach oben. DJ Erol gesteht nach der Bewertung: "Hier hat keine das Zeug zur Miss-Germany".

Am Ende ist dann mit der Nummer 14 die letzte die erste. Während Agatha Toth mit einem verlegenen Lächeln den Journalisten ihre Maße in den Block diktiert, das sie 1,73 misst, 54 Kilo wiegt und so weiter ... Währenddessen erfüllen sich Familienväter einen Stockwerk drüber ihre wahren Männerträume: beim Carrera-Bahn-Rennen.

Stefan Säemann


Express Online: Thema der Woche | 14. September 2006

Auf den Spuren der Geschichte

Sie sind schon die steilste Bobbahn der Welt hinabgesaust und dem heiligen Bonifatius bis nach England gefolgt. Die Hinterländer Mountainbiker erfahren buchstäblich Geschichte – und haben jetzt ein gleichnamiges Buch mit sieben Touren auf den Spuren historischer Ereignisse veröffentlicht.

Normale Radwege finden die Hinterländer Mountainbiker einfach nur langweilig. "Wir suchen sie Herausforderung", sagt Ulrich Weigel. Deswegen sind sie bereits als "tiefste Radler der Welt" ins Guinessbuch der Rekorde eingegangen. Dort stehen sie als die Mountainbiker, die bei schweißtreibenden 30 Grad durch das älteste befahrbare Kalibergwerk der Welt in Sondershausen gebrettert sind.

Doch das Team aus der kargen Region westlich von Marburg will auch "zeigen, dass das Hinterland nicht Hessisch Sibirien ist". Die "Autobahnen des Mittelalters" seien durch das Gebiet verlaufen. Der spektakuläre Postraub in der Subach wurde hier verübt. Und an Landgraf Philipps Heimritt aus derGefangenschaft erinnert die Philippsbuche an der Grenze zum Hinterland.

Unter dem Titel "Geschichte erfahren" haben Harald Becker, Jörg Krug, Siegfried Pitzer, Matthias Schmidt und Ulrich Weigel sieben Touren auf den Spuren historischer Ereignisse in einem Buch veröffentlicht. Die Sportler verbinden darin ihre Leidenschaft für das Radfahren mit ihrem Geschichtshunger. Neben Etappenberichten liefern sie Wissenswertes rund um Persönlichkeiten und Sehenswürdigkeiten am Wegesrand.

Um die alten Pfade und Straßen zu erkunden, haben die Hobbyhistoriker, die eigentlich Techniker, Werkzeugmacher und Landschaftsgärtner sind, vor jeder Tour etwa ein Jahr über "schweinsledernen Schwarten", archivalischen Akten, Geschichtsbüchern und Landkarten gebrütet. "Das ist wie ein Puzzlespiel", sagt Jörg Krug.

Hundertachzig Jahre nach dem Überfall der Posträuber auf das "Geldkärrnchen" des Großherzogtums Hessen-Darmstadt rekonstruierten sie den Weg quer durch den Wald von Dexbach bei Biedenkopf in die Subach unweit von Gladenbach. Statt mit Masken, Branntwein und Pistolen waren sie indes mit Karten und dem Navigationssystem GPS ausgerüstet.

Sie entdeckten die so genannte "Brabanter Straße", eine in Vergessenheit geratene, einst zentrale Ost-West-Verbindung von Köln nach Leipzig, die durch das Hinterland verläuft. Die von verfallenen Burgen gesäumte Heerstraße führte meist auf die Kämme der Berge, wo mögliche Angreifer weithin sichtbar waren. Sie folgten dem Rückzug der Sachsen, die bei Laisa und Battenfeld (Kreis Waldeck-Frankenberg) vernichtend geschlagen wurden.

Doch die zwischen 33 und 52 Jahre alten Mountainbiker wagten sich auch weit außerhalb des Hinterländer Raumes: So ermittelten sie den Weg des hessischen Landgrafen Philipp aus seiner spanisch-niederländischen Gefangenschaft zurück nach Hessen. Bei Hambach brauchten sie allerdings eine Sondergenehmigung, um der alten Römerstraße zu folgen. Sie führt nämlich quer durch ein Braunkohletagebaugebiet. Noch ehrgeiziger war die Tour auf Hannibals Spuren über die Alpen. Bis nach England folgten sie dem heiligen Bonifatius, der in Amöneburg bei Marburg die erste mönchische Niederlassung gründete.

Inzwischen sind sie dabei auch als Testfahrer für einen Fahrradhersteller unterwegs. Schließlich fahren die Biker auch bei Eis und Schnee und in schwerem Gelände. Sogar den Eiskanal der steilsten Bobbahn der Welt in Winterberg sind sie schon hinabgesaust.

Das nächste Projekt ist natürlich schon geplant: In den Herbstferien wollen sie einen Abschnitt der noch nicht restaurierten "wilden chinesischen Mauer" bezwingen.

Hinterländer Mountainbiker: Geschichte erfahren. 7 Hessen-Touren mit GPS-Navigationsdaten. Jonas-Verlag. ISBN 3-89445-361-3. 160 Seiten.

Gesa Coordes



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