Express Online: Thema der Woche | 8. Juni 2006

Durchhaltevermögen

Die Proteste gegen die geplanten Studiengebühren halten unvermindert an. 5000 Studenten haben allein in Gießen vergangene Woche demonstriert.

Zumindest die Wartenummern haben die Studenten ordnungsgemäß gezogen. Ansonsten ist es am Mittwochnachmittag vorbei mit der Ordnung in der Bismarckstraße 5. Im Gießener Stadtbüro, wo eben noch Pässe ausgestellt, Zeugnisse beglaubigt und Wohnsitze angemeldet wurden, geht es drunter und drüber: Auf dem Teppich, den Tischen und Stühlen liegen zerknüllte Formulare und Faltblätter verstreut, ein Blumenkübel ist umgekippt. Studenten drängen in das Großraumbüro, skandieren Parolen wie "Bildung für alle – und zwar umsonst". Eine junge Sachbearbeiterin macht unbeirrt weiter: "Wer ist als nächstes dran?", ruft sie in die Menge. "172", lacht einer. Und hält das Märkchen einem Polizisten vors Gesicht, der ihn gerade aus dem Gang schubsen will. "Clever sind sie ja, die Studenten", knurrt der und wendet sich dem Nächsten zu, der Nummer 181.

Den ganzen Nachmittag über hielt sich die Polizei im Hintergrund – jetzt machen dutzende Polizisten binnen weniger Sekunden den Eingang dicht. Keiner kommt mehr rein, keiner mehr raus. Ein Pulk von Demonstranten drückt die Polizei nach hinten, die kontert mit Pfefferspray, rohe Eier klatschen gegen die Wand. Ein junger Mann, der auf den Schultern seiner Mitstreiter balanciert, reckt die französische Trikolore empor. Derweil schlüpfen drei Besetzer durch ein Seitenfenster ins Freie.

Nach einer Stunde dürfen die 50 noch verbliebenen Besetzer das Gebäude verlassen, zuvor sind ihre Personalien aufgenommen worden. Jetzt wird gegen sie wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung ermittelt.

Mit dem Sturm aufs Stadtbüro begann die Demo nach der genehmigten Demo, ein fünfstündiges Katz-und-Maus-Spiel zwischen Studenten und Polizei, ständig begleitet von zwei Polizei-Hubschraubern. "Was soll denn dieses planlose Umherlaufen", greift sich ein Polizist an den Kopf. "Ich habe einen Sohn im zweiten Semester und bin auch gegen die Gebühren."

Endlich diskutieren wir nicht nur, sondern handeln wie in Marburg und Frankfurt", sagt ein Student der Politikwissenschaften: Man müsse bisweilen über die Stränge schlagen, gewaltfrei verstehe sich, nur so ließe sich die Entschlossenheit der Studenten rüberbringen.

Knapp 1000 andere Studenten schienen ihm beizupflichten, als sie den Bahnhof ansteuerten und dort eine halbe Stunde lang Foyer und Bahnsteige besetzten. Im Wettlauf mit der Polizei ging es anschließend im Sprint über die Lahnbrücke, dann querfeldein bis zum Gießener Ring. Zwar gelang es ein paar Protestlern, die Böschung hinauf zur Fahrbahn zu klettern, dort wurden sie aber ruckzuck wieder vertrieben. "Wir kommen wieder", kündigten die Demonstranten an. Der Termin für die nächste Demonstration in Gießen steht bereits: der 8. Juni.

Stefan Säemann
Georg Kronenberg



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