Express Online: Thema der Woche | 2. Februar 2006

"Wege in die Vernichtung"

Info:
Die Ausstellung "Wege in die Vernichtung" ist noch bis zum 5. Februar täglich von 10 bis 18 Uhr im unteren Rathaussaal zu sehen. Der Eintritt ist frei, der Ausstellungskatalog kostet 8,- €
Kontakt:
Geschichtswerkstatt Marburg e.V.
Telefon: 06421/13107
Homepage: www.gw-marburg.
online-h.de
Ulrike Rhode
Die Geschichtswerkstatt Marburg zeigt im Rathaus eine Ausstellung, die es eigentlich nicht geben dürfte: Fotos über die Deportation der Juden aus Würzburg

Das NS-Regime konnte nicht vermeiden, dass die Deportationen der Juden aus ihren Heimatorten in die Konzentrationslager unter den Augen der Öffentlichkeit stattfanden. Aber es konnte sowohl der Presse als auch Privatleuten das Fotografieren und damit Dokumentieren dieser Verbrechen strikt verbieten. In manchen Fällen gibt es trotz dieser Verbote einzelne Aufnahmen oder kleinere Serien von Fotos, die meist heimlich gemacht wurden.

Ganz offiziell dagegen wurden die drei ersten Deportationen von Juden aus Würzburg in den Jahren 1941/42 dokumentiert. Auf Befehl von SS-Brigadeführer Benno Martin fertigte der im Würzburger Erkennungsdienst arbeitende Gestapo-Beamte Hermann Otto insgesamt 139 Fotos an: Auf den Sammelplätzen, bei den Personen- und Gepäckdurchsuchungen, beim Marsch durch die Stadt und beim Besteigen der Züge. Die Fotos wurden von der Gestapo zu einem Album zusammengestellt und zum Teil mit verhöhnenden Bildunterschriften versehen. Diese umfangreichste Sammlung ihrer Art diente nach dem Krieg als wichtiges Beweismaterial im Strafverfahren gegen die Täter. Danach war das Album jahrzehntelang im Labyrinth der Akten verschollen und wurde erst vor vier Jahren wiederentdeckt. Das Staatsarchiv Würzburg gestaltete um dieses Album eine Ausstellung, die die Geschichtswerkstatt nun nach Marburg holte.

Es sind kleinformatige Fotos, an die man näher herangehen muss, um Einzelheiten wahrzunehmen. Manche der Aufnahmen wirken auf den ersten Blick wenig spektakulär; Menschen, die sich vor der Stadthalle versammeln, Menschen, die in Gruppen neben ihrem Gepäck stehen, Menschen, die ihr Gepäck verladen und Züge besteigen. Die scheinbare Banalität dieses Geschehens ist erschreckend. Weder den Tätern, Uniformierten oder auch Helfern in Zivil, noch den Opfern kann man an Gesichtern oder Gesten ablesen, wohin die Züge fahren werden. Die meisten Gesichter der Opfer sind ernst, müde, verschlossen. Hier und da entdeckt man vielleicht das Lächeln eines Kindes oder einer jungen Frau oder Resignation und Hilflosigkeit bei einem älteren Menschen. Aber die Fotos sind mit dem mitleidlosen Auge eines Täters gemacht worden, und die Opfer waren sich dessen wohl bewusst.

Einige der auf den Abtransport in die Vernichtungslager Wartenden hat der Gestapo-Fotograf einzeln herausgepickt, weil er ihr Aussehen wohl für besonders "jüdisch" hielt. Da ist ein Jugendlicher, vor einer Backsteinmauer stehend, auf zwei fast identischen Fotos zu sehen, einmal mit seiner Schirmmütze auf dem Kopf, einmal ohne. Auf beiden Aufnahmen hat er denselben abwesenden, leeren Gesichtsausdruck, hinter dem er seine Gefühle vor der Kamera des Täters verbirgt. Ein älterer Mann, vor derselben Mauer, wie ein Tatverdächtiger einmal frontal und einmal im Profil fotografiert, lächelt sogar – beide Male dasselbe Lächeln.

Aber es gibt auch das Foto eines verzweifelt weinenden Kindes oder das einer Frau, die ihr Gepäck zur Sammelstelle schleppt und sich dabei wie aus Angst vor Schlägen duckt. Dazu der Kommentar der Gestapo-Schergen: "Sara muß mal persönlich arbeiten."

Die Sicht der Täter nimmt man bei diesen Fotos wahr. Und doch bewirkt deren Versuch, das Geschehen zu banalisieren und die Opfer zu verhöhnen, für uns das Gegenteil: Wir schauen um so aufmerksamer auf Gesichter, Gesten, kleine Details, auf die Menschen, deren individuelle Schicksale irgendwo hinter diesen Fotos zu erahnen sind.

Ulrike Rohde


Express Online: Thema der Woche | 2. Februar 2006

Langer Atem

Die Geschichte
des Synagogen-
gebäudes
1921 hatte die jüdische Gemeinde in der kleinen mittelhessischen Stadt das Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Gasthaus mit Tanzsaal und einem Wohntrakt gekauft und zur Bezalel-Synagoge umgebaut. Der Name der Synagoge erinnert an einen jüdischen Baumeister. Dass das Gebäude heute überhaupt noch steht, sei dem Wohnanbau zu verdanken, berichtet Doris Nusko. "Als die Nazis in der Pogromnacht 1938 durch Lich zogen, haben sie nur die Räume verwüstet. Anzünden konnten sie die Synagoge nicht, weil der Anbau an Nichtjuden vermietet war." Dafür erhoben die Nazis Anspruch auf das Gebäude und richteten dort ihr örtliches Parteibüro ein.Während des II. Weltkriegs wurde ein Teil der ehemaligen Synagoge außerdem zum Gefangenenlager für französische Zwangsarbeiter umfunktioniert, daran erinnern immer noch die massiven Gitter an den Fenstern der Vorderfront. Nach dem Krieg war das von den Nazis der Stadt übereignete Gebäude zeitweise als Bürgermeisterei, Altentagestätte und von einem Schützenverein genutzt. Zuletzt hatte die Stadt das Gebäude der Licher Musikschule zur Verfügung gestellt.
Der 650.000 Euro teuere Umbau zum Kulturzentrum wurde mit 153.000 Euro aus Eigenmitteln der Stiftung finanziert, 145.000 Euro steuerte die Stadt Lich bei. Der Restbetrag stammt aus Fördergeldern vom Bundestagspräsidium, dem Kreis Gießen, der Oberhessischen Versorgung AG sowie Privatspendern.
Georg Kronenberg
Mehr als ein Jahrzehnt lang haben eine Handvoll Bürger für die Restaurierung der ehemaligen Licher Bezalel-Synagoge gekämpft. Am Wochenende wurde das einstige Gotteshaus als Kulturzentrum neu eröffnet.

An das jüdische Leben erinnerte lange Zeit fast nichts mehr, in dem Backsteinbau an der Amtsgerichtsstraße in Lich. Der mit goldenen Sternen bemalte Himmel des ehemaligen jüdischen Gotteshauses war über ein halbes Jahrhundert hinter einer Zwischendecke verborgen. Zwischen den Sternen auf dem Dachboden bröckelte längst der grau fleckige Putz, nur die bunten Bleiglasfenster auf der verwilderten Rückseite des heruntergekommenen Anwesens erinnern von außen noch an die einstige Synagoge.

Die Stadt Lich hat lange Zeit wenig zur Erhaltung des Gebäudes getan", berichtet Doris Nusko. "Manchmal sage ich ganz böse, die haben eigentlich nur darauf gewartet, dass das Haus zusammenbricht. Dann wäre ein Stück der Vergangenheit begraben gewesen."

Mehr als ein Jahrzehnt hat sich die 65-jährige ehemalige Lehrerin Nusko und ein harter Kern von rund fünfzehn Mitstreitern aus Kirche, Politik und Kultur für die Restaurierung eingesetzt. Mit Erfolg: am Sonntag wurde das für rund 650 000 Euro in eineinhalb Jahren sanierte und zum Kulturzentrum umgebaute Gebäude mit einer Festrede von Moritz Neumann, Landesvorsitzender der jüdischen Gemeinden in Hessen, wieder eröffnet. "Wir wollen dass das Gebäude wieder mit Leben erfüllt wird", sagt Nusko. "Hier soll ein zentraler Ortfür eine dauerhafte Erinnerungsarbeit an das jüdische Leben in Lich und der Region sein."

Ausgangspunkt war ein Schulprojekt: 1987 begannen Oberstufenschüler der Licher Dietrich-Bonhoeffer-Schule die Nazizeit und die Verfolgung der Juden in ihrer Heimatstadt zu recherchieren. "Dabei sind wir auf Ernst Chambré gestoßen", berichtet ihr damaliger Lehrer Klaus Konrad-Leder. Der Sohn eines Licher Bankiers hatte als einziges von sechs Familienmitgliedern den Holocaust überlebt, war nach einer Odyssee durch Europa und Palästina 1947 in die USA ausgewandert. "Wir haben ihm einen Brief geschrieben, der Kontakt hat sich dann verfestigt", erzählt Konrad-Leder.

Beeindruckt durch die Recherchen und Zeitzeugenberichte starten die Schule und das Licher Kino Traumstern Ende der 80er Jahre eine jährliche Veranstaltungsreihe zur Reichspogromnacht. Konrad-Leder: "Wir wollten aufklären, dass Mittelhessen damals mehr als der üblich braune Sumpf war. November 1932 lag der Anteil der NSDAP bei der Reichstagswahl hier schon bei 55,3 Prozent – gegenüber 33,1 Prozent im Deutschen Reich." Konrad-Leder beginnt in der Folgezeit außerhalb des Unterrichts Seminare zur NS-Zeit anzubieten. Die lokal- und regionalgeschichtlichen Zugänge, Seminare in den Gedenkstätten Auschwitz und Buchenwald stoßen auf Interesse bei den Jugendlichen. Das Programm der Reihe zur Reichspogromnacht mit Lesungen und Musikveranstaltungen wird nach und nach ausgeweitet und findet auch über die 14.000-Einwohner-Stadt bei Gießen hinaus Anklang. Und Ernst-Ludwig Chambré entschließt sich 1995, eine nach ihm benannte Stiftung ins Leben zu rufen, die diese Lernwege dauerhaft unterstützen soll.

Zwei Jahre zuvor war der erste Vorstoß im Stadtparlament zur Restaurierung des Synagogengebäudes gescheitert: Die Abgeordneten votierten statt dessen lieber für einen Anbau an das Bürgerhaus. Geld für beide Projekte sei laut dem Licher Bürgermeister Ludwig Seiboldt (CDU) auch nicht vorhanden gewesen. Allein hätte die Stadt – die bis Ende der 90er Jahre einen ausgeglichenen Haushalt hatte – den Umbau nicht finanzieren können, so Seiboldt.

Um das Projekt voranzubringen, sagte die Chambré-Stiftung 1999 eine finanzielle Beteiligung an den Umbaukosten zu. Konkret seien die Pläne freilich erst Ende 2002 geworden, "nachdem wir gedroht haben, unsere Finanzzusage zurückzuziehen", sagt Doris Nusko, die Vorstandsmitglied im Stiftungsbeirat ist.

Georg Kronenberg



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