Express Online: Thema der Woche | 10. November 2005

"Das Böse ist auch für ein Kind höchst interessant"

Ingrid Noll ...
... wurde als Tochter eines deutschen Arztes 1935 in Shanghai geboren und wuchs zusammen mit ihren drei Geschwistern in Nanking auf. 1949 zog sie nach Deutschland und studierte nach dem Abitur Germanistik und Kunstgeschichte. 1959 heiratete sie einen Arzt, arbeitete in seiner Praxis mit und kümmerte sich um ihre drei Kinder und Haushalt. Nebenbei begann sie mit dem Schreiben. Ihren ersten Roman "Der Han ist tot" (1990) schrieb sie, als die Kinder bereits das Haus verlassen hatten. Der Krimi wurde ein voller Erfolg – der bis heute anhält. Inzwischen sind ihre Bücher in über 20 Sprachen übersetzt. Mehrere ihrer Romane wurden verfilmt. Für die Hauptrolle in "Die Apothekerin" nach der Romanvorlage der heute in Weinheim lebenden Schriftstellerin gewann Schauspielerin Katja Riemann 1998 den Deutschen Filmpreis.
Ingrid Noll liest am Donnerstag, 17. November, um 19.30 Uhr im Bürgerhaus in Biebertal (Rodheim-Bieber) aus ihrem Roman "Falsche Zungen". Infos unter www.wieselevents.
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Georg Kronenberg
Sie gilt als die Grand Dame des deutschen Krimis und wird auch schon mal mit Patricia Highsmith verglichen. Im Express-Interview erzählt Schriftstellerin Ingrid Noll von ihrer Lust am Morden, zu schönen Schauspielerinnen und familiären Herausforderungen.

Express: Frau Noll, Sie schreiben fast immer aus der Perspektive der Täterin und können sich anscheinend gut in Mörderinnen hineinversetzen. Haben Sie selbst eine Leiche im Keller?
Ingrid Noll: Nun, Sie haben sicher auch eine. (lacht) Ganz ohne lebt ja wohl niemand. Ich wähle gern die Ich-Form, weil mir die Geschichte dann glaubwürdiger gelingt. Nicht, dass ich mich mit den Mörderinnen identifiziere, sondern weil ich es ein bisschen wie eine Schauspielerin mache, die in eine Rolle hineinschlüpft. Wenn ich in der Ich-Form schreibe, kann ich die Geschichte auch für mich selbst besser nachvollziehen.

Express: Sie sind erst spät, über das Schreiben von Kinderbüchern zur Kriminalautorin geworden. Waren Ihnen die Kindergeschichten zu brav?

Ingrid Noll: Kindergeschichten waren der Anfang. Aber dann stellte ich fest, dass meine eigenen Kinder längst erwachsen waren und orientierte mich um. Jetzt habe ich eine Enkelin von sechs Jahren und könnte mir vorstellen, dass ich für sie wieder ein Buch schreibe. Meine Enkelin weiß im übrigen gar nicht, dass ich Krimis schreibe, verlangt aber witzigerweise ständig, ich solle ihr etwas von bösen Kindern erzählen. Und dann lasse ich sie auch oft selbst erzählen, wie das böse Kind aussehen soll. Die Geschichten vom Struwwelpeter etwa, wo ja auch immer nur böse Kinder vorkommen, haben ja bis heute ihre Faszination behalten. Das Böse ist auch für ein Kind höchst interessant.

Express: Sie sind 1935 in Shanghai geboren und mussten China 1949 verlassen, was geht in Ihnen heute vor, wenn Sie die rasanten Entwicklungen im Reich der Mitte aus der Ferne beobachten?
Ingrid Noll: Ich finde das alles natürlich hoch interessant und war selber auch zweimal dort; das letzte Mal vor sechs, sieben Jahren. Diese Reisen waren wahnsinnig aufregend und spannend, aber es hat sich natürlich viel verändert. Das ist so, als wenn Sie nach 50 Jahren in ein deutsches Heimatdorf kommen und kaum etwas wieder erkennen. Und im heutigen China geht es dabei noch viel rasanter zu.

Express: Stichwort Verfilmung: Wie ist das, mitzuerleben, wenn die eigenen erdachten Figuren plötzlich mit den Gesichtern von Schauspielern wie etwa mit Katja Riemann und Jürgen Vogel in "Die Apothekerin" oder dem wunderbaren August Diehl in "Kalt ist der Abendhauch" besetzt werden?
Ingrid Noll: Das ist ein schwieriger und ziemlich ambivalenter Prozess. Ich glaube aber, das geht auch jedem Leser so. Wer einen Roman gelesen hat, macht sich selbst schon seinen Film daraus und vergleicht die Personen aus dem Buch mit Menschen, die man vielleicht kennt. Und bei mir ist das natürlich noch extremer: ich weiß genau, wie die Figuren aussehen sollten, doch dann kommen Schauspieler daher und sehen total anders aus. Aber damit muss ich zurecht kommen. Wenn die Darsteller schauspielerisch die Kriterien erfüllen, bin ich zufrieden, wenn nicht, wird es schwierig. Dazu kommt: die Personen in meinen Romanen sind nicht wunderschön, sondern manchmal eher graue Mäuse. Und das ist natürlich ein Problem für den Film, denn die Produzenten wollen natürlich keine grauen Mäuse, sondern volle Kassen. Nehmen wir etwa Katja Riemann, die ich persönlich sehr schätze und die sich in der "Apothekerin" intensiv in ihre Rolle eingedacht hat. Aber sie ist im Grunde zu attraktiv. Und dann traut man ihr die Taten gar nicht mehr zu, denn man würde annehmen, sie könnte eigentlich bessere Typen an Land ziehen.

Express: Haben Sie je daran gedacht, ein reines Drehbuch zu schreiben?
Ingrid Noll: Das habe ich sogar schon ausprobiert. Und zwar für eine Komödie für Radio Bremen. Aber auf Dauer möchte ich das nicht machen. Wenn ich vielleicht noch jünger wäre, würde ich mich sicher einarbeiten. Ich finde Regie führen eigentlich auch eine wunderbare Möglichkeit. Aber das muss man lernen und ich bin, wie Sie sicherlich errechnet haben, 70. Da ist es für manche Dinge zu spät. Zudem ist das Drehbücher-Schreiben nicht so kompatibel mit meinem Leben hier in der Familie. Man muss hauptsächlich im Team arbeiten und ist nicht so sehr Herr seiner Zeit. Deshalb habe ich mich dagegen entschieden. Wenn ich einen Roman schreibe, kann ich mir die Zeit ja frei einteilen. Ich habe eine 104-jährige Mutter, die ich hier im Haus pflege, und mein Mann ist 74 und auch nicht mehr gesund. Ich muss also aufpassen, dass ich allem gerecht werde.

Express: Die Salzburger Nachrichten bezeichneten Sie einmal als die deutsche Patricia Highsmith, mögen Sie solche Etiketten?
Ingrid Noll: Es ist natürlich ehrenvoll. Die Highsmith verehre ich sehr. Deswegen ist es überaus freundlich gemeint. Trotzdem stimmt es natürlich nicht, denn die Highsmith war ein völlig anderer Mensch als ich, lebte ganz allein mit ihrer Katze. Bei mir gab es immer ein volles Haus mit viel Besuch und Kindern, jetzt Enkelkindern. Wir sind oft vier Generationen unter einem Dach. Meine Mutter ist, wie gesagt, 104 und das Baby unserer Tochter ist gerade sechs Wochen alt. Daher habe ich eine ganz andere Art zu leben.

Express: In ihrem aktuellen Buch "Falsche Zungen" suchen sonderbare Leute zwischen familiärem Kleinkrieg und Kindersegen nach Liebesglück. Wird Ihrer Meinung nach am häufigsten aus Liebe gemordet?
Ingrid Noll: Wenn Sie jetzt die Realität, beziehungsweise die Statistiken anschauen, warum Mörder im Gefängnis einsitzen, dann geht es sicherlich eher um Geld als um Liebe. Aber bei Frauen ist esimmerhin häufiger, dass sie aus Liebe oder verschmähter Liebe zur Mörderin werden.

Interview: Rüdiger Oberschür



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