Express Online: Thema der Woche | 27. Oktober 2005

Die Rückkehr des Milchmanns

Totgesagte leben länger, auch im Einzelhandel. Seit sieben Jahren gibt's in Mittelhessen wieder einen Milchmann.

Ein schneller Blick auf die Bestellliste genügt. "Ein Joghurt, eine Sahne, ein Dreiliter", murmelt Mhamed Benchaib vor sich hin und sprintet mit den Sachen zur Haustür eines Kunden in Gießen. Der 40-Jährige ist Milchmann von Beruf, montags bis samstags kurvt er mit seinem Milchwagen durch Mittelhessen, den Vogelsberg und die Wetterau. Wenn er von seinem Job erzähle, sagt Benchaib lachend, schauten ihn stets verdutzte Gesichter an: "Alle denken, in Deutschland gäb's gar keinen Milchmann mehr – aber ich bin ja einer."

Seit sieben Jahren lässt Benchaibs Chef Thilo Junge die Tradition aus Großbritannien und den USA in Hessen aufleben. "Wir wollten uns damals vom Trend abkoppeln, dass die großen Molkereien die Milch immer schlechter bezahlen. Und es hat geklappt", erklärt der Betriebsleiter, der die Domäne Selgenhof in Ulrichstein gemeinsam mit einer weiteren Familie bewirtschaftet. In dem ökologischen Betrieb mit 140 Kühen und der Gutsmolkerei sind 13 Arbeitskräfte beschäftigt, sieben Fahrer bringen Milch in Zwei- oder Drei-Liter-Packs, Joghurt, Sahne, Butter und Eier in die Region.

Natürlich sei die Auslieferung – gerade bei den derzeitigen Rekord-Spritpreisen – ein riesiger Kostenfaktor, erzählt Junge. Damit sich der Service rentiert, sind die Milchtouren zu den gut 2000 Kunden ausgeklügelt bis ins letzte Detail. Präzise Anleitungen auf der Auftragsliste sollen Benchaib helfen, Zeit zu sparen: "Kleine Sackgasse, linke Klingel, zweite von unten, erster Stock, rechte Wohnung", steht da etwa neben einer Adresse in Gießen, oder "Links am Haus vorbei in den Garten, Milch bitte in den Kellereingang stellen". Auch Beruhigungsformeln wie "Keine Angst vor dem Hund" sind vermerkt.

Eine junge Mutter ist von dem Bringdienst ganz angetan: "Wir genießen das total – vor allem, dass er extra bis zur Tür hochkommt." Eine ältere Kundin ist schon "seit der ersten Probeflasche" vor sieben Jahren dabei. "Früher bin ich wegen einer Flasche in den Laden gerannt, das ist vorbei." Ein Rentner erwartet Benchaib bereits am Gartentor und scherzt mit ihm, manche Kunden dagegen bekommt der fröhliche 40-Jährige nie zu Gesicht – weil sie längst aus dem Haus sind oder einfach eine Kühltasche nach draußen stellen. "Die meisten sehen nur seinen Rücken, so flott, wie er das abwickelt", lobt Junge.

Trotz aller Begeisterung sei das Milchmann-Konzept ein absoluter Nischenmarkt, betont der Geschäftsführer des Bundesverbandes Molkereiprodukte in Bonn, Eckhard Heuser. "Das ist ein bisschen was für Romantiker." Die strengen Hygieneregeln für Milch und Mehrwegbehälter seien in kleinen Betrieben oft ein Riesenproblem, und angesichts der höheren Preise müssten die Käufer Milch schon sehr lieben. Gestaffelt nach der Abnahmemenge koste seine Biomilch mit gut einem Euro pro Liter im Schnitt zehn Cent mehr als im Geschäft, berichtet Junge.

Günstiger als die eingesetzten Pfandflaschen aus Kunststoff wäre dem Betriebsleiter zufolge Einweg. Sein spezieller Kundenkreis – "vom Durchschnittsverdiener an aufwärts" – lege jedoch viel Wert auf Umweltschutz. "Wir würden sonst deutlich an Käufern verlieren." Für die älteren Abnehmer dagegen spiele Bio nicht die erste Geige: "Die fühlen sich durch den frischen Geschmack an früher erinnert." Auch einige Kindergärten und eine Schule lassen sich regelmäßig mit Milch beliefern. Bundesweit schickten mindestens eine Handvoll Betriebe ebenfalls Milchmänner los, schätzt Junge.

Auf bis zu 140 Klingeln drückt Benchaib jeden Tag, von acht Uhr morgens bis nachmittags ist er mit einem wendigen Transporter unterwegs. Sein Chef hofft, dass der 40-Jährige künftig noch häufiger schellen muss: "Wir verarbeiten an drei Tagen pro Woche Milch – das heißt, die Technik steht bisher vier Tage pro Woche still." Weil Junge den Lieferradius nicht ausweiten will, setzt er auf mehr Kunden im Hauptabsatzgebiet in und um Gießen, aber auch in der Wetterau bis nach Friedrichsdorf und Bad Homburg. Für den Milchmann kein Problem: "Meine Arbeit ist die beste, die es gibt."

Julia Ranniko



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