Express Online: Thema der Woche | 8. September 2005

Profis und Dilettanten

Der Autor
Dr. Norbert Kerting ist Wahlforscher und Dozent für Politikwissenschaften an der Marburger Philipps-Universität
red
Die Kritik an der Meinungsforschung ist oft berechtigt.

Meinungsforschungsinstitute sind private Unternehmen, die in der Regel politische Umfragen lediglich am Rande bearbeiten. Sie tendieren, wie z.B. deutlich bei Allensbach und Emnid, zum konservativen Lager und bei FORSA eher in die Nähe von Rot-Grün. Dies beinhaltet nicht automatisch, dass über eine Fälschung der Umfragedaten die eine oder andere Partei bevorzugt wird. Gute Umfrageinstitute arbeiten wissenschaftlich und machen ihre Methode transparent.

Die unlauteren Dilettanten

Umfragen, die auf dem TED-Prinzip basieren, sind grundsätzlich nicht repräsentativ und häufig bloße Meinungsmache. Hierbei stimmen vor allem die Unzufriedenen. Das Ergebnis wird zudem oft durch massive Telefonanrufe aus den Wahlkampfbüros der Parteien verfälscht. Schlimmer noch, über Telefon-EDV-Anlagen haben sich Organisationen darauf spezialisiert, massiv die TED-Umfragen gegen entsprechendes Entgelt zu manipulieren. Da nützt es auch nichts, dass das findige Parteimitglied sich drei- oder viermal einwählt, um seinerseits sein Votum abzugeben. Das in der Demokratie und in der Meinungsforschung vorherrschende Prinzip "One Man – One Vote" wird eklatant gebrochen. Dieser Vorwurf gilt auch für die Vielzahl von Umfragen im Internet, die in der Regel keine Identifizierung des Wählers zulassen und somit eine Mehrfachwahl durch einen multiplen Mausklick ermöglichen.

Noch schlimmer sind sogenannte Wahlspiele, bei denen Schüler oder interessierte Bürger das Wahlergebnis selbst prognostizieren. Hier wird der Durchschnitt dieser laienhaften Schätzungen als eigene Prognose gewertet. Dabei drängt sich die Frage auf, woher die Teilnehmer ihre Informationen über alte Wahlergebnisse und Trends haben.

Die kommerziellen Profis

Diese Kritik gilt nicht für die kommerziellen großen Meinungsforschungsinstitute. Den großen Umfrageinstituten mangelt es vielfach an der nötigen Transparenz. So werden oft mit der parteiischen Schere im Kopf nur bestimmte Umfrageergebnisse publiziert. Dabei spielt der Hintergedanke mit, dass Mitläufereffekte (Bandwaggoneffekte) wirken. Viele in Bezug auf die Wahlentscheidung unsichere Bürger sind lieber bei der Siegerpartei als beim Verlierer.

Ohnehin ist die Wahlprognose oder -projektion im Vorfeld der Wahlen, die nicht auf den Rohdaten beruht, sondern mit einem eigenen Berechnungsfaktor versehen ist, in der Regel nicht alleine ausschlaggebend. Einige Umfrageinstitute scheinen gerne zu vergessen, darauf hinzuweisen, dass oft nahezu die Hälfte der Wähler noch unentschlossen ist. Man geht stillschweigend davon aus, dass diese Unentschlossenen genau so votieren wie die anderen.

Prognosen für den Wahlkreis Gießen?

Der Ausspruch, dass das alte Wahlergebnis die beste Prognose für das neue ist, stimmt in der Regel schon, dürfte aber bei der folgenden Bundestagswahl wohl nicht zutreffen. 1998 herrschte eine massive Wechselstimmung vor, die selbst die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung attestierte. Ein Versuch, die vorhergehenden Kommunal- und Landtagswahlen für eine Prognose heranzuziehen, dürfte ebenfalls wenig erfolgreich sein, da hier die Wahlbeteiligung erheblich niedriger liegt als gemeinhin bei Bundestagswahlen.

Von daher macht es Sinn, einen längeren Zeitraum zu betrachten. Deutlich wird, dass im Wahlkreis Gießen historisch ein relativ knappes Ergebnis zu erwarten ist. Die SPD lag 1994 mit etwa 66.000 Zeitstimmen vor der CDU mit 64.000 Stimmen. Die Grünen erreichten etwa 16.000 Stimmen bei den Bürgern, die FDP etwa 14.000, die Republikaner 4700 und die PDS etwa 1800 Stimmen.

Historisch ein Fotofinish

Von Belang ist vor allem die Erststimme. Der Wahlkreis Gießen ist für Wahlforscher besonders interessant, da hier der Kampf um die Erststimme und das direkte Mandat heftig umstritten ist. Bei der Wahl 1994 hatte der SPD-Kandidat gerade einmal 1600 Stimmen mehr als der CDU-Gegner.

Bei der Auswahl der Kandidaten zeigte sich bei den letzten Wahlen unter den FDP-Anhängern ein klares Stimmensplitting. Fast die Hälfte der FDP-Wähler scheint für einen Kandidaten der Spitzenpartei votiert zu haben. Bei den Grünen konnte sich 1994 nur ein Zehntel der Wähler zur Wahl des SPD-Kandidaten bewegen, während bei den Republikanern nahezu alle Stimmen an ihren aussichtslosen Kandidaten flossen. Insgesamt haben von den 170.000 Wählern im Landkreis etwa 27.000 ihre Stimme den aussichtslosen Kandidaten der kleinen Parteien gegeben und somit verschenkt.

Bei der letzten Wahl 2002 war immerhin ein Drittel von B90/Grünen bereit, den neuen Kandidaten der SPD zu wählen, während die FDP ihrem Kandidaten die Stimme gab. So lag dieser deutlich vor dem Kandidaten der CDU (siehe Grafik).

Auch auf Bundesebene zeigen die Erfahrungen der letzen Wahlen, dass es knapp werden könnte und, wie wir schon häufiger in Deutschland gesehen haben, die über viele Erststimmen erworbenen Überhangmandate darüber entscheiden, welche Parteienkonstellation uns in Deutschland die nächsten vier Jahre regiert. Freuen wir uns auf eine spannende Wahl.

Bundestagswahlen Landkreis Gießen
(absolute Stimmen)
Partei2002
1. Stimme
(Kandidat)
2002
2. Stimme
(Partei)
1994
1. Stimme
(Kandidat)
1994
2. Stimme
(Partei)
SPD78.00071.00069.00067.000
CDU68.00063.00067.00067.000
B90/
Grüne
9.00017.00013.00016.000
Links-
partei (PDS)
2.7002.500-1.800
FDP15.00016.0008.00014.000

Prognosen für Wahlkreis Marburg?

Selten haben sich die Konzepte der Parteien so deutlich unterschieden wie bei dieser Wahl. Ob Bürgerversicherung, Grundsicherung und Spitzensteuer (SPD) oder Kopfpauschale, Mehrwertsteuererhöhung, 25 % Steuer (CDU) – beide Großparteien haben deutlich unterschiedliche Profile. Die Kleinparteien und insbesondere die neue Linkspartei gehen in ihren Forderungen deutlich weiter auseinander.

Der Ausspruch, dass das alte Wahlergebnis die beste Prognose für das neue ist, stimmt in der Regel schon, dürfte aber bei der folgenden Bundestagswahl wohl nicht zutreffen. 1998 herrschte eine massive Wechselstimmung vor, die selbst die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung attestierte. Ein Versuch, die vorhergehenden Kommunal- und Landtagswahlen für eine Prognose heranzuziehen, dürfte ebenfalls wenig erfolgreich sein, da hier die Wahlbeteiligung erheblich niedriger liegt als gemeinhin bei Bundestagswahlen. Von daher macht es Sinn, einen längeren Zeitraum zu betrachten. Deutlich wird, dass im Wahlkreis Marburg-Biedenkopf historisch ein relativ knappes Ergebnis zu erwarten ist. Die SPD lag bei der Wahl 1994 mit etwa 59.000 Zweitstimmen vor der CDU mit 55.000 Stimmen. Die Grünen erreichten etwa 16.000 Stimmen bei den Bürgern, die FDP etwa 10.000 und die PDS etwa 2.500 Stimmen.

Historisch ein Fotofinish

Der Wahlkreis Marburg ist für Wahlforscher besonders interessant, da hier der Kampf um die Erststimme und das direkte Mandat heftig umkämpft ist. Bei der Wahl 1998 hatte die SPD-Spitzenkandidatin zwar noch mehr als 12.000 Stimmen, bei der Wahl 1994 aber gerade einmal 1.000 Stimmen Vorsprung vor dem CDU-Kanzleramtsminister Bohl.

Bei der Auswahl der Kandidaten zeigte sich bei den letzten Wahlen unter den FDP-Anhängern ein klares Stimmensplitting. Weit mehr als die Hälfte der FDP-Wähler scheint für einen Kandidaten der Spitzenpartei votiert zu haben. Bei den Grünen konnte sich immerhin ein Drittel der Wähler zur Wahl der SPD-Kandidatin bewegen, während bei der PDS nahezu alle ihre Stimme an den aussichtslosen Kandidaten flossen. Insgesamt haben 1994 von den 150.000 Wählern im Landkreis etwa 20.000 ihre Stimme den aussichtslosen Kandidaten der kleinen Parteien gegeben und somit letztendlich verschenkt.

Bei der letzten Wahl 2002 war das Verhältnis fast identisch. Hier haben aber die Hälfte der Grünen-Wähler (7000) ihre Stimme dem SPD-Kandidaten gegeben, der mit 14.000 Stimmen deutlich vor dem CDU-Kandidaten lag (siehe Grafik).

2005 ist für zusätzliche Spannung gesorgt. So sind der SPD-Kandidat Sören Bartol aus Marburg und der neue CDU-Frontmann Frank Gotthardt aus Kirchhain nicht hundertprozentig über die Landesliste abgesichert. Bei der letzten Bundestagswahl konnte z.B. nur der Listenplatz 1 der SPD über diese hessische Landesliste in den Bundestag einziehen. Möglicherweise wird also auch diesmal nur der direktgewählte Kandidat den Landkreis im Bundestag vertreten.

Da die Direkt-Kandidaten der Kleinparteien sehr weit abgeschlagen sind, läuft es auf ein Duell der Bundestagskandidaten der Großparteien hinaus. Dabei unterscheiden sich die Kandidaten deutlich. Der Mandatsinhaber Sören Bartol steht für die rot-grüne Politik und wird auch von seinen grünen Bundestagskollegen unterstützt. Der CDU-Gegenkandidat, der hessische Landtags-Abgeordnete Frank Gotthardt, hat die Bürde, dass er für die Privatisierung der Marburg-Gießener Uni-Klinik mitverantwortlich ist. Deutlich wird auch ein unterschiedlicher Politikstil. Während der Bundestagsabgeordnete Bartol seine gesamte Amtszeit nutzte, um in Marburg sowie im Ost- und Westkreis Präsenz zu zeigen und sich in Berlin um heimische Belange zu kümmern, ist der Landtagsabgeordnete Gotthardt eher in Kirchhain und im Ostkreis verwurzelt und konzentrierte sich stärker auf seine Arbeit in der hessischen CDU-Landtagsfraktion.

Die weiteren Kandidaten Pit Metz (Linkspartei/PDS), Elke Siebler (B90/Die Grünen) und Heinrich Dingeldein (FDP) haben keinerlei Chance auf ein Direktmandat, können aber ihre Parteipositionen in den Wahlkampf einbringen und für Zweitstimmen kämpfen.

Auf Bundesebene zeigen die Erfahrungen der letzen Wahlen, dass es für die vielen denkbaren Regierungsmodelle und -koalitionen knapp werden könnte. Wie wir schon häufiger in Deutschland gesehen haben, könnten die über viele Erstimmen erworbenen möglichen Überhangmandate darüber entscheiden, welche Parteienkonstellation uns in Deutschland die nächsten vier Jahre regiert. Freuen wir uns auf eine spannende Wahl.

Bundestagswahlen Landkreis Marburg-Biedenkopf (absolute Stimmen)
Partei2002
1. Stimme
(Kandidat)
2002
2. Stimme
(Partei)
1994
1. Stimme
(Kandidat)
1994
2. Stimme
(Partei)
SPD68.00060.00064.00059.000
CDU54.00050.00063.00055.000
B90/
Grüne
7.00015.00011.00016.000
Links-
partei (PDS)
2.5002.6002.3002.500
FDP7.00010.0004.00010.000

Norbert Kersting



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