Express Online: Thema der Woche | 28. Juli 2005

Wölfe werden zu Lämmern

Hof Fleckenbühl
Aus der 1971 aus der Release-Bewegung hervorgegangenen Synanon-Gründung in Berlin heraus gründeten 1984 zwölf Berliner Mitglieder den Hof Fleckenbühl in Cölbe/Schönstadt.
1995 trennte der Hof sich von Synanon und firmiert jetzt als eingetragener selbständiger Verein Suchthilfe Fleckenbühl und als GmbH als Betreibergesellschaft des Hofes.
Kristina Stockmann
Seit 20 Jahren bildet die Suchthilfe Fleckenbühl eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft für ehemalige Drogen- und Alkoholabhängige.

Umerziehungslager", "Gehirnwäsche", oder aber "letzte Chance" lauten die unterschiedlichen Einschätzungen mancher Schnupperer und Dagebliebener überSuchthilfe Fleckenbühl, den vor den Toren Marburgs gelegenen Hof der Arbeits-und Lebensgemeinschaft Suchthilfe Fleckenbühl bei Cölbe-Schönstadt. 130 ehemalige drogen- und alkoholabhängige Männer und Frauen wohnen und arbeiten hier suchtmittelunabhängig.

Der Zugang ist unbürokratisch, jeder Hilfesuchende wird Tag und Nacht sofort aufgenommen und kann zwei Wochen zur Probe wohnen. Einzige Voraussetzung: keine Drogen, keine Gewalt, nicht rauchen – und ein halbes Jahr Kontaktsperre nach draußen. Nach zwei Wochen wird die Wohnung aufgelöst und alles Hab und Gut der Gemeinschaft überschrieben. Alles fließt in den gemeinsamen Topf, von dem allerdings auch viel finanziert wird: Ausbildungen, Schuldenbegleichung und ähnliches. Die Devise ist ebenso einfach wie rigide: Viel Arbeit, und Regelverletzungen werden streng geahndet. Man wird "genullt", d.h. auf den Anfängerstand gesetzt und muss Monate verstärkten Einsatz beim Putzen und anderen Tätigkeiten erbringen.

Manche hauen bereits nach einer Stunde ab, andere bleiben viele Jahre. Hein war von der drohenden Schmuckabgabe und der neu zu verpassenden Haartracht so geschockt, dass er in die nächste Imbissbude floh und dort erstmal einen heben musste. "Diese Schnapspiraten, Halsabschneider mit KZ-Methoden", beschimpft der Hamburger die Eingangsrituale des Hofes. Für ihn besonders bitter: Seine Wohnung hatte er bereits aufgelöst, alle Brücken hinter sich abgebrochen, der Hochglanz-Prospekt von Fleckenbühl hatte ihn angelockt und ihm anderes versprochen. Jetzt sitzt er in Marburg ohne festen Wohnsitz vor dem Nichts.

Für Margrit (Name von der Redaktion geändert), die 33-jährige Dauerkifferin, waren die drei Jahre auf dem Hof mit ihrem Kind eine Chance "alles Alte loszulassen", die ungeliebte Wohnung, die alten Freunde und "die lästige Gewohnheit, immer etwas nehmen zu müssen". Die Kontaktsperre empfand sie sogar als Erleichterung, obwohl sie das erste Jahr viel weinte und weg wollte. Heute empfindet die selbständige Marburgerin diese Zeit als wichtigen Meilenstein auf ihrem Weg. Den Umgang mit den 20 Prozent Frauen auf dem Hof bezeichnet sie als besonders angenehm: "Die Wölfe werden dort zu Lämmern." Männer sind angehalten, Frauen das erste halbe Jahr nicht sexuell anzumachen, und es gibt die Regelung eines höflichen Umgangstones miteinander als ultimatives "Muss". Bei den allabendlichen "Spielen" kann man dann die Sau rauslassen, bzw. die tagsüber angestauten Aggressionen verbalisieren.

Für viele ehemalige Kriminelle, die die Selbsthilfetherapieeinrichtung statt Knast nutzen können und auf dem Hof leben, ist die Maßnahme notwendig, um das ursprüngliche Milieu mit seinem Jargon gänzlich hinter sich zu lassen. Für sie und für manche andere ist Fleckenbühl lebensrettend und oft die letzte Chance, in ein bürgerliches Leben zurückzukehren. Man kann sich auf dem Hof hocharbeiten und zahlreiche Ausbildungen wie Bäcker, Koch, Vieh-und Landwirt, Metzger, Molkereifachmann und Bürokaufmann absolvieren.

Thorsten Bangert, Leiter der Käserei in Fleckenbühl, strebt nach zwei Jahren jetzt die Ausbildung zum Molkereifachwirt an, die drei Jahre dauern wird. Er hofft, danach "draußen" wieder Fuß fassen zu können. Für seine Altlasten wird ein Schuldentilgungsplan entwickelt.

Neben den kreativen Beschäftigungsmöglichkeiten in der Töpferei und Kunstwerkstatt gibt es die Wirtschaftsbetriebe in biodynamischer Anbauweise nach Demeter-Richtlinien: Land-und Viehwirtschaft, Käserei, Bäckerei und der Buffetservice. Außerhalb des Hofes existieren in Marburg mehrere Naturkostläden, in denen Fleckenbühler Milch-, Back- und Wurstwaren sowie Keramikprodukte verkauft werden. Die Kinder des Hofes besuchen in Ginseldorf den Kindergarten und die Schule. Die Betreibergesellschaft des Hofes organisiert außerdem nationale und internationale Umzüge und Entrümpelungen.

In 20 Jahren haben sich in Fleckenbühl ca. 5000 Süchtige geholfen. Die Fluktuation ist groß, bilanziert Geschäftsführer Roland Meyer (53), der seit 1990 mit seiner Frau und seinen zwei Kindern auf dem Hof lebt, nüchtern das eine Drittel, das im Schnitt länger bleibt. "Für viele, die aus Gefängnissen kommen, hat es oft nur Alibifunktion, um Verwandten zu zeigen, dass man etwas tut. Ein Drittel der Leute kommen nicht einmal bis zum Eingangsgespräch, ein Drittel geht in der Probezeit. Der Rest bleibt länger." Roland Meyer sieht das pragmatisch, Kategorien wie Erfolg und Versagen würden hier nicht weiterhelfen: "Süchtige brauchen offensichtlich mehrere Anläufe, bis es klappt. Wir lehren die reine Lehre, was man daraus macht, kann nur der Betroffene selbst beurteilen. Er kann die Erfahrung machen, ohne alles auszukommen. Moralische Kategorien sind in diesem Bereich gänzlich untauglich."

Für Interessierte ist der jeden letzten Samstag im Monat stattfindende "Tag der offenen Tür" ein Angebot dem Hof Fleckenbühl etwas näher zu kommen und persönlich Einblick zu nehmen.

Kristina Stockmann



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