Express Online: Thema der Woche | 5. Mai 2005

Kandidaten für die Couch

Thomas Baums Psychogramm einer zerrütteten Familie zwischen Politzirkus und Suizid bringt frischen Wind in ein altes Sujet und schafft dabei erstaunlich satirische Klarheit. Regisseur Henri Hohenemser inszeniert Baums Schlafende Hunde fürs TiL mit ebenso scharfem wie humoristischem Verstand

Väter sprechen während ihrer Amtszeit sicher so manches Verbot aus, doch die Verbote aus dem Mund von Papa Feichtner sind schon etwas besonderes: "Ich untersage dir, dich umzubringen. Und zwar schärfstens!", bellt er. Sohn Max hat die wiederum sehr häufig auftretende Eigenschaft von Söhnen, nicht zu hören und durch geschlossene Fenster aus dem linken Bühnenrand des Theaters im Löbershof zu springen. Natürlich bleibt alles nur wieder ein gescheiterter Versuch, um im Präsidentschaftswahlkampf des Vaters einen Funken Aufmerksamkeit zu erhaschen oder einfach für Irritation zu sorgen.

Nur, ganz so simpel ist das Stück des Linzers Autors und Psychologen Thomas Baum dann doch nicht aufgebaut. Was am Anfang noch dem alten sozialpädagogischen Sujet vernachlässigte Kinder von Karriereeltern und einer verstaubt anmutenden Diskussion klingt, entpuppt sich ziemlich schnell als scharfsinnige Groteske über psychische Fassaden und die Unzulänglichkeiten eines jeden Einzelnen. Am Ende ist dann der designierte Verrückte der einzig Normale.

So geht man zunächst zur Familientherapie, um mit einer gewollt schwächelnden Psychologin ("brav gelernt, frisch von der Uni, jung und unerfahren") den familiären Umgang mit Sohnemann Max zu diskutieren, der gerade erst eine wichtige PR-Veranstaltung gesprengt hat, indem er mitten in der rhetorischen Flut des Vaters einfach auf den gedeckten Tisch fällt. So werden die familiären Reflektionen unter professioneller Anleitung zum heißen Eisen, und nach und nach treten die Enthüllungen ans Tageslicht, durch die Baums Psychogramm einer zerrütteten Familie den enormen Drive und die selbstironische Komponente erhält.

Henri Hohenemser gewinnt dem Potential des Stücks dabei in jeder der 90 Minuten Dauer seiner Inszenierung – die die deutsche Erstaufführung ist –, ein wahres Feuerwerk an scharfsinnigen Szenerien ab. Lukas Noll hat ihm dafür eine Bühne im passenden Wartezimmercharme gebaut. Im Schlagabtausch der lakonischen Dialoge lässt Hohenemser die Fassaden ganz langsam bröckeln, ohne gleich die abgründigste Tiefe daraus zu machen. Denn eine Qualität des Stückes ist es, dass das Tragische kurzerhand ins Komische kippt: Sebastian Songin gibt überzeugend den Möchtegern-Manager und Bruder Felix, dessen spielsüchtiges Pleitegeiertum als erstes enttarnt wird. Christian Fries, der hier als Gast den PR-Spezialisten Clemens gibt, kann seiner Figur als potentieller Liebhaber von Mama Feichtner auch eine gewisse Schmähung nicht versagen, und die First Lady hat neben einer Alkoholaffinität vor allem unter der Impotenz ihres sonst so herrisch daherkommenden Gatten zu kämpfen. Ein bizarres Paarspiel, in dem Petra Soltau und Christian Lugerth eine ihrer bisher größten und überzeugendsten Verwandlungen darbieten. Carolin Weber, die hier als Dr. Clara Pilgrim so herrlich keck das berufliche Scheitern illustriert, mampft dann am Ende frustriert die Familienpizza, während Isaak Dentler, der wahren Mut zum minimalistischen Spiel beweist, endlich erfahren darf, dass er lediglich ein Adoptivfall der familieneigenen Organisation "Charity for Children" ist.

Nur schockierend ist das dann alles nicht mehr so ganz, nachdem das gesamte Ensemble ein slapstickhaftes "We are the world" als Akustik-Version gebracht hat, um sich selbst als die psychisch "Schlafenden Hunde" zu enttarnen.

Weitere Aufführungen 21. und 26.5. 20.00, TiL

Rüdiger Oberschür


Express Online: Thema der Woche | 5. Mai 2005

Körper in Konversation

Info:
In Marburg wird das Institut Nzinga für Capoeira Angola in Zusammenarbeit mit der Tanzsport-Gemeinschaft Marburg e.V. tätig. Leiterin ist Gizelda Alves Hengstl, eine Schülerin der Meister J. Grande, Moraes und Cobra Mansa, die seit drei Semestern Capoeira Angola am Zentrum für Hochschulsport der Universität unterrichtet. Organisatorischer Ansprechpartnerin der Nzinga Marburg ist Fernanda Lorek. Bis auf weiteres findet das Training Mittwoch 17.00 bis 18.30 Uhr im Bürgerhaus Cappel statt. Kontakt: 06423/92104 oder 0177/4194210 (G. Alves Hengstl); 06426/5727 (Fernada Lorek) oder 01749014095.
Seit Ende der 70er Jahren hat die brasilianische Kampfkunst Capoeira ihren Weg über den Atlantik gefunden. Deutschland ist heute das Land mit den meisten Capoeira-Gruppen in Europa. Seit März existiert in Marburg ein Ableger des sozial engagierten brasilianischen Capoeira-Angola-Instituts Nzinga.

Es macht Freude, ihnen zuzusehen und ihre Eindrücke zu hören. Fernanda, 34, überkommt eine Art Freiheitsgefühl: "Capoeira macht mich federleicht. Toll ist, dass man in der Bewegung seinen eigenen Stil entwickelt kann." Für die 21-jährige Suzy ist Capoeira "eine seelische und körperliche Entspannung. Außerdem ist die Atmosphäre familiär." Man merkt, mit Capoeira kann man nicht nur Sport treiben, sondern auch seine Persönlichkeit entwickeln.

Capoeira Angola diente ursprünglich der Selbstverteidigung der schwarzen Sklaven in Brasilien. Sie ist eine Art Kampftanz und stammt aus einem afrikanischen Ritual. In Brasilien wurde sie als eine Form des Widerstandes weiterentwickelt. Heute ist sie ein verbreiteter Sport, in dem sich tänzerische Bewegung und taktisches Verhalten, Kampf und Tanz in Rhythmus und Körpersprache miteinander verbinden. Capoeira Angola wird über die Kampfkunst hinaus als Lebensphilosophie begriffen.

Als Kampfkunst bietet Capoeira Angola dem Capoeirista eine Art Ermutigung, die im Dialog von Körper und Geist Kraft und Energie erzeugt und die Harmonie mit dem Anderen fördert. Capoeira Angola ist zudem ein Sport, der die individuelle körperliche Eignung ausgezeichnet berücksichtigt und von jedem Menschen – gleich welchen Alters und Geschlechts – betrieben werden kann. Der sechsjährige Sebastian (Name v.d.Red. geändert) ist mit seiner autistischen Behinderung noch eine Besonderheit: "Es ist beeindruckend, wie er zu Hause und in der Schule besser aufpasst, sich engagiert und sogar mit anderen spricht, seit er bei Capoeira mitmacht. Das ist der Sport für ihn", erzählt seine Mutter.

Nicht übersehen sollte man die geschichtlichen und kulturellen Elemente der afro-brasilianischen Bevölkerung, die sich in diesem Sport ausdrücken. Darin unterscheidet sich Capoeira Angola von Capoeira Regional. Capoeira Regional, oftmals irreführend nur als Capoeira bezeichnet, ist eine kulturpolitisch begründete Neuschöpfung der dreißiger Jahre: Um die von schwarzen Sklavenabkömmlingen stammende Capoeira in Brasilien für Weiße akzeptabel zu machen, mischte man Elemente von Capoeira Angola und anderen Kampfsportarten.

Capoeira Angola wird mit dynamischen Bewegungen und mit viel Sensibilität getrieben – "gespielt". Sie ist als "eine improvisierte Konversation zwischen zwei Körpern" anzusehen. Der Capoeira-Meister Pastinha definierte einmal so: "Capoeira Angola ist die Mandinga des Sklaven in der Begierde nach Freiheit. Ihr Prinzip hat keine Methode, und ihr Ziel bleibt unvorstellbach dem Weisesten aller Capoeiristas." Als Mandinga versteht man die Körperbewegungen, aus denen das Capoeira-Spiel besteht und die die Attacken zugleich darstellen und verschleiern.

Wichtige Bestandteile der Capoeira Angola sind Musik und Gesang. Zu einer Roda di Capoeira Angola, dem Kreis, den die Capoeiristas bilden, gehören acht Schlaginstrumente – drei Berimbaus, einsaitige Instrumente, mit einer Art Plektrum geschlagen, und von zwei Pandeiros (Tamburin), einem Agog“ (Glocke), einem Reco-Reco (eine Art Raspel), einer Atabaque (Trommel) begleitet werden. Dazu singt man verschiedene Arten von Liedern, die in der brasilianischen Kultur und Geschichte wurzeln. "Gerade die Vielseitigkeit dieses künstlerischen Sportes hat mein Interesse geweckt", berichtet Helga, 56. "Damit verbunden sind Körperbewegung, Musik, Denken ... – das ist wie Improvisationstheater."

Gizelda Alves Hengstl



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