Express Online: Thema der Woche | 14. April 2005

"Let's fetz!"

Info:
Mit dem Erlösen von Rüdiger Nehbergs Reportage unterstützt der Veranstalter, der gemeinnützige Verein "Marburger-Dia-Mogule", ein HIV/AIDS-Projekt in Kenia (der EXPRESS berichtete).
Rüdiger Nehberg:
Rüdiger Nehberg ist Deutschlands bekanntester Überlebenskünstler. Nach fünf Reisen durch Äthiopien in den 70er Jahren – er befährt den blauen Nil, den Omo-Fluss und durchquert die Danakil-Wüste-, setzt sich der Hamburger ab 1980 für die Yanomami-Indianer in Brasilien ein und verbindet die Lust am Abneteuer mit dem Engagement für Menschenrechte. So nutzt er die Aufmerksamkeit der Medien, als er dreimal mit selbstgebauten "Wasserfahrzeugen" (Tretboot, Bambusfloß, massive Tanne) den Atlantik überquert, um auf die Missachtung der Rechte der Indianer und auf die Bedrohung der Regenwälder hinzuweisen. Mit dem gleichen Anliegen besucht er die Weltbank und den Papst. Seit 2000 widmet sich der Träger des Bundesverdienstkreuzes dem Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung und gründet "TARGET".
Nehberg ist Autor von 20 Büchern, 18 TV-Reportagen berichten von seinen Abenteuern und seinem Engagement für die Menschenrechte. Am 26.4. ist er zu Gast bei Johannes B. Kerner, am selben Tag wird seine Biographie auf dem Markt erscheinen.
Geert Schroeder
Mit einem spektakulären Vortrag leitete Rüdiger Nehberg vor vier Jahren die Veranstaltungsreihe der "Dia-Days" ein. Am Montag, dem 18. April ist der Überlebenskünstler und engagierte Menschenrechtler mit seiner neuen Dia-Reportage abermals zu Gast in der Marburger Stadthalle und berichtet von seinem "Leben gegen den Strom".

Express: Als gelernter Bäckermeister hast du es wohl schon immer darauf angelegt, niemals "kleine Brötchen zu backen". Ein Blick auf Deinen Lebenslauf verrät, dass du stets außergewöhnliches gewagt hast. Wie hat sich dein Wandel vom Konditor zum Überlebenskünstler vollzogen?
Nehberg: Der Beruf hat mich nur bedingt erfüllt und gefordert. Erfüllung fand ich beim Reisen auf eigene Faust – z.B. mit dem Fahrrad durch die halbe Welt. Als ich dann in den 60er Jahren in den USA vom Thema "Survival" erfuhr, habe ich dieses neue Wissen nach Europa importiert und perfektioniert. Es machte mich unabhängig von Zivilisation und Ausrüstung: 1000 km zu Fuß von Hamburg nach Oberstdorf ohne Nahrung, per massivem Baumstamm über den Atlantik, allein und quasi unbekleidet zu den Yanomami-Indianern in Brasilien ...

Express: Du feierst bald einen runden, und zwar deinen 70sten Geburtstag, aber auch deine Organisation "TARGET" feiert ein Jubiläum, wenn auch nur ein kleines. Auf fünf Jahre Vereinsarbeit kannst du mittlerweile zurückblicken. Was will TARGE"?
Nehberg: TARGET ("Ziel") betreut ein Indianervolk, die Waiapi in Brasilien, und kämpft mit Aktionen gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Und zwar mit der Kraft des Islam.

Express: Hattet ihr Bedenken, als "Ungläubige" in den betroffenen Ländern nicht akzeptiert zu werden?
Nehberg: Ich teile den Glauben der Muslime an nur einen einzigen großen Schöpfer und Jesus und Mohammed als Menschen und Propheten. Insofern hatte ich nie Akzeptanzprobleme. Außerdem fühle ich mich dem Islam verpflichtet. Zweimal retteten mir Gastgeber unter hohem körperlichen Einsatz das Leben. Drittens überzeugt unsere Strategie: "Frauenverstümmelung ist mit der Ethik des Islam unvereinbar. Sie ist Sünde."

Express: Wie realistisch stehen die Chancen, dass TARGET die angepeilten Ziele erreichen wird?
Nehberg: TARGET Vision ist die Verkündung dieser These in Mekka durch die Saudis. Nach erstaunlichen ersten Erfolgen in anderen Ländern geben wir der Realisierung eine hundertprozentige Chance.

Express: Nun kommst du gerade von einem Aufenthalt aus Afrika zurück. 50 Tage hast du eine "Karawane der Hoffnung" begleitet. Was hatte es damit auf sich?
Nehberg: Wir durften das mit dem Großcheikh Hamden Ould Tah erarbeitete Rechtsgutachten auf Fahnen schreiben und von Nomade zu Nomade, von Oase zu Oase tragen: "Der Islam sagt NEIN zur weiblichen Genitalverstümmelung. Sie ist Sünde!"

Express: "Ein Leben gegen den Strom", so der Titel deines Vortrags. Was erwartet die Zuschauer?
Nehberg: Der Krimi meines Lebens: Witzig, spannend, absurd, ansteckend, ernst, anspornend zu eigenem Engagement. Wir mit vorgelebten Erfolgen versuchen, auch andere Menschen anzustecken und sie motivieren, noch mehr aus ihrem Leben zu machen. Nichts ist unmöglich. Denn alles Menschgemachte ist zunächst im Kopf einer einzelnen Person entstanden. Und die hat es verstanden, sich durchzusetzen. Ob die Gründung Marburgs oder einer Religion – Let's fetz! Denn heute beginnt der Rest des Lebens.

Express: Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Geert Schroeder


Express Online: Thema der Woche | 14. April 2005

Der Armut den Kampf ansagen

Info:
Armuts- und Sozialberichte sind für die Kommunen ein wichtiges soziales Planungsinstrument. Die Ergebnisse aus dem Wetzlarer Sozialstrukturatlas 1998/99 haben zum Beispiel dazu geführt, dass der Wetzlarer Stadtteil Niedergirmes in das Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" aufgenommen wurde. In den vergangen 15 Jahren haben in Hessen Frankfurt, Wiesbaden, Kassel, Gießen, Marburg, Wetzlar, Fulda und Bad Vilbel eigene Armutsberichte erstellt. Die Kriterien für die Armuts- und Sozialberichterstattung waren allerdings von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich.
Georg Kronenberg
Gießen und Wetzlar wollen als erste Kommunen in Hessen Armuts- und Sozialberichte nach einheitlichen Kriterien erstellen, um die soziale Situation der Nachbarstädte vergleichbar zu machen – und erfolgreiche Rezepte im Kampf gegen die Armut zu übertragen.

Bundesweit gibt es keine einheitlichen Kriterien für die Armuts- und Sozialberichterstattung", kritisiert die Haushalts- und Familienwissenschaftlerin Uta Meier-Gräwe, die das Modellprojekt leitet. "Bisher ist es so, dass jede Kommune die Schwerpunkte nach eigenem politischen Interesse festlegt." Oft werde nur die Einkommenssituation oder Altersstruktur der Sozialhilfeempfänger untersucht. Andere Lebensbereiche wie zum Beispiel Bildung und Gesundheit blieben dagegen in vielen Städten außen vor.

Das bedeutet, dass wir beispielsweise die Kosten eines Jugend- oder Sozialhilfefalls in Gießen überhaupt nicht mit einem Fall in Wetzlar vergleichen können – obwohl beide Städte eine Sozialberichterstattung haben. Das wollen wir ändern", sagt Gießens Oberbürgermeister Heinz-Peter Haumann (CDU). Deshalb entwickelt das Team von Meier-Gräwe an der Gießner Universität zurzeit ein Modell für eine "systematische Sozialplanung" in den benachbarten Oberzentren. Dabei sollen Einkommen, Bildung, Gesundheit, Wohnraumsituation sowie die gesellschaftliche Teilhabe der Bevölkerung – zum Beispiel bei Wahlen – erfasst werden. "Wichtig ist, dass wir die Städte möglichst kleinräumig untersuchen können", sagt Meier-Gröwe. "Nur so können wir die Stadtteile mit den größten Problemen genau benennen – und erfolgreiche lokalpolitische Maßnahmen im Kampf gegen die Armut in die jeweils andere Kommune übertragen."

Angestrebt ist laut Gießens Oberbürgermeister Haumann, dass das Konzept bis Jahresende steht. Das Modellvorhaben wird von der Stadt und dem Bundesfamilienministerium gefördert. Wenn der Kriterienkatalog fertig ausgearbeitet ist, soll das Konzept in weiteren Kommunen unterschiedlicher Größe getestet werden. Meier-Gräwe: "Das Ziel ist, ein Handbuch für eine deutschlandweit einheitliche Sozialberichterstattung zu erstellen.

Schließlich ist zurzeit sogar der Vergleich zwischen armen und reichen Bezirken in einer einzigen Stadt oft schwierig. Das hat Meier-Gräwe bei der Arbeit am 2002 erschienenen Gießener Armutsbericht erlebt. "Die Datenlage war sehr unübersichtlich", berichtet die Wissenschaftlerin. Der Grund: Die Schulbezirke, Wahlbezirke oder statistischen Bezirke sind in Gießen nicht einheitlich. Wie in vielen anderen Städten auch, haben etwa Jugendamt, Sozialamt oder Gesundheitsamt für ihre behördeninterne Arbeit unterschiedliche Grenzen gezogen. "Damit ist eigentlich klar, das man die von den Ämtern gelieferten Daten kaum miteinander vergleichen kann", sagt Meier-Gräwe. Die Nachbarstadt Wetzlar hat dagegen bereits vor Jahren die Verwaltungsgrenzen der Behörden vereinheitlicht – als Voraussetzung für die vergleichende Armuts- und Sozialberichterstattung. Gießen will dem Beispiel voraussichtlich bis zum Sommer folgen.

Georg Kronenberg



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