Express Online: Thema der Woche | 24. März 2005

Über das Verirren der "Irren" in Marburg

Oder: Warum verschweigt die Stadt das Vorhandensein einer Psychiatrie in Marburg?

Zwischen dem "äußeren Irre-Gehen" und dem "inneren Irre-Sein" lassen sich Verbindungen herstellen. Das lehrt das Buch von Martin Scharfe über die Kulturgeschichte der Wegweiser, das im Marbuger Jonas-Verlag erschienen ist. Die Studie hilft dabei, sowohl Begründungen dafür zu finden, warum endlich Wegzeiger zum Marburger Zentrum für Soziale Psychiatrie (ZSP) aufgestellt werden sollten, als auch tiefenpsychologische Hintergründe für deren gänzliches Fehlen und für das Verirren der "Irren" und der – womöglich zeitweise verwirrten – Gesunden zu erkennen.

Es kommt vor, dass wir uns bei Tag verirren, nachts aber unbewusst unseren Weg querfeldein "erspüren", indem wir einer inneren Stimme folgen, wie in Trance sozusagen. Martin Scharfe führt als Beispiel aus der Literatur die Romanfigur Anton Reiser aus dem Buch von Karl Philipp Moritz an, der sich in einer ihm wohl vertrauten Umgebung verirrt. Der Grund dafür scheint ein Ambivalenz-Konflikt zu sein zwischen Zärtlichkeit und Feindseligkeit. Das Hin- und Hergerissensein verhindert zielgerichtetes Handeln. So kommt es, dass er für den Rückweg vier Tage braucht, während der Hinweg an einem Tag gelang. Die tiefenpsychologische Interpretation würde lauten: Er will nicht ans Ziel kommen. "Das konfuse Leben findet keine gerade Straße."

Während das alte Verirren früherer Zeiten durch die vermeintliche Macht, die äußere Gegenstände auf die Menschen hatten, verursacht wurde, kommt das Verirren nach der modernen Deutung aus dem Inwendigen des Menschen. Bei Anton Reiser wird eine zeitliche und räumliche Desorientierung angedeutet und in die Nähe zu Traum und Wahnsinn gerückt. In der Täuschung liegt der Gewinn.

Aus diesem Grund wären Wegweiser zur Psychiatrie dringender notwendig als für jedes andere Krankenhaus. Anton Reisers Unbewusstem war es gewissermaßen "lieb", wenn er sich verirrte, aber die Angehörigen der Patienten und die Psychiatrie selbst haben doch wohl eher ein Interesse daran, dass der Weg schnell gefunden wird. Gerade dann, wenn die Gründe für das Verirren im Inneren liegen, ist es wichtig, äußere Hilfen zu schaffen und Wegweiser aufzustellen.

Die ersten Wegzeiger wollte die preußische Regierung bereits um das Jahr 1700 aufstellen, aber sie wurden oft aus Furcht vor "Gesindel und Soldaten" zerstört. Die spätkapitalistische Zirkulation des 18. Jahrhunderts duldete jedoch keine Zeitverzögerung mehr. Das Verirren musste abgeschafft werden. Der neuen Zielgerichtetheit entsprachen auch die geraden Straßenzüge, die im 18. Jahrhundert z. B. in Paris angelegt wurden. Ob sich der Grund der tödlichen Verliebtheit ins Verirren der heutigen Geisterfahrer mit Anton Reiser in Verbindung bringen lässt, sei dahingestellt.

Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden viele Geschichten über das Versagen von Wegzeigern. Grauen und Angst konnten nicht wirklich gebannt werden.

Im 17. und 18. Jahrhundert ahmten die Wegzeiger oft weisende Hände und Arme nach. Heute erscheint uns das kindlich-kindisch, gleichzeitig rufen die entsprechenden Federzeichnungen jedoch eine wehmütige Erinnerung an die Zeit der Dingbeseelung hervor. Der psychischen Regression in der Krankheit würde dies wohl entsprechen.

Autofahrer gehen meist wenig humorvoll mit irreführenden Auskünften oder nichtbezeichneten Straßen um. Frühe Erfahrungsberichte sind voll von zornigen oder hämischen Geschichten darüber. Ein englischer Automobilfan z.B. beschwerte sich darüber, dass in Deutschland Verkehrschilder "durch Abwesenheit glänzen". Noch 1921 wurde deshalb die Empfehlung herausgegeben, einen Kompaß mitzunehmen. Selbiger würde unseren Psychiatriesuchenden wahrscheinlich wenig nutzen. Die Warnung des Pkw-Aufklebers "Folgen Sie mir nicht, ich habe mich auch verirrt" sollte allerdings beachtet werden.

Heute sollten Wegweiser wegen der Geschwindigkeit der Autos bereits 30 bis 40 m vor der Verzweigung sichtbar sein. Auch Vor-Wegweiser sind mittlerweile üblich geworden, nicht nur Hinweise zum nächsten Ort. Hinweisschilder zum ZSP in der Cappeler Straße 98 anzubringen, wäre mehr als das Schreiben eines Stückes Sachkulturgeschichte. Sie würden auch deutlich machen, dass die Stadt zu ihrer Psychiatrie steht und auf sie genauso stolz ist wie auf ihre Universität.

In Anlehnung an das Buch von Martin Scharfe: "Wegzeiger, Zur Kulturgeschichte des Verirrens und Wegfindens", 1998, Jonas-Verlag Marburg

Elisabeth Dörrenbecher


Express Online: Thema der Woche | 24. März 2005

Turnende Talente

Kurzbiographie Dennys Sawellion
Der 38-jährige Dennys Sawellion ist einigen sicher noch von seiner "Erstkarriere" her bekannt, als Frontman der Rock'n'Roll Band Back to the Fifties. Mit dieser Band feierte der gebürtige Gießener einige Jahre lang nicht geringe Erfolge (1995: 20 Fernsehauftritte). Sawellion hat ein Studium als Sportmagister und Sport auf Lehramt in Kassel absolviert. Zwischenzeitlich studierte er in den USA (South Carolina) ein Jahr "Sports Business", das dort als eigenständiger Studiengang angeboten wird und ihm seine jetzigen PR-Aufgaben erleichtert.
Schließlich erfolgte die Promotion in Sport, natürlich über das Thema Turnen. Bis Anfang 20 turnte er in der Landesliga für Krofdorf – das Krafttraining absolvierte er damals mit einem befreundeten Schulkameraden auf dem Bauernhof von dessen Eltern bei der Heuernte. Inzwischen ist er seit fünf Jahren als Lehrer für Sport, Musik und Politik an der Herder Schule in Gießen beschäftigt.
Fragen an Dennys Sawellion per E-Mail: SawellionTGM@aol.com. Infos auf der Seite des Turngau Mittelhesen: www.turngau-
mittelhessen.de
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Katrin Woitenas
Über Spitzensport in Gießen wird derzeit viel diskutiert. Wir sprachen mit Dennys Sawellion vom Turngau Mittelhessen über die Planungen für ein Leistungszentrum und den Nutzen des Turnens für Kinder

Dr. Dennys Sawellion, der neue Leiter des Turngau Mittelhessen e.V. (Fachverband für Turnen, Gymnastik, Freizeit- und Gesundheitssport), hat sich und den Vereinen für dieses und die nächsten Jahre hohe Ziele gesteckt.

Geplant ist die Errichtung eines Leistungszentrums für Turner, eventuell gekoppelt mit Schule – ein sogenanntes Talentzentrum, in dem begabte Kinder trainieren und lernen können.

Aber nicht nur die Kinder und Jugendlichen sollen gefördert werden: "Wir haben hier in Gießen und Umgebung ein ungeheures Potential", so Sawellion. "Wir wollen den überall verstreuten, unorganisierten Turnern mit dem Leistungszentrum einen Bezugspunkt geben, mit der Möglichkeit endlich ausreichend trainieren zu können. Ich gehe sogar soweit zu behaupten, dass wir irgendwann eine Bundesligamannschaft gründen könnten."

Die Durchführung ist weniger aufwendig als man denken könnte: Ein Neubau ist nicht geplant; vielmehr soll eine bestehende alte Halle modernisiert werden. Auch ein Kauf ist laut Sawellion nicht nötig; es reiche, die Halle anzumieten. So kalkuliert beliefen sich die Kosten auf ca. 300.000 Euro für die Einrichtung der Halle, inklusive Geräte und Boden. Sollte man bis zum Bundesturnfest eine Entscheidung treffen können, könnte man dort die Geräte sogar für den halben Preis erwerben. Einige Objekte haben die Turner wohl auch schon im Auge, dazu äußerte sich Dennys Sawellion jedoch bislang noch nicht.

Finanzielle Förderung sei zurzeit jedoch nicht das Hauptproblem. "Primäres Ziel momentan", betont Sawellion, "ist es, das öffentliche Interesse auf das Turnen als solches zu lenken." Und tatsächlich war Turnen und das Publikumsinteresse daran selten so präsent und lebendig wie jetzt; wohl viele in der Region haben schon den Namen Fabian Hambüchen gehört.

Durch sein einjähriges Studium in den USA im Bereich "Sports Business" weiß Sawellion wie wichtig die Präsentation der Vereine in der Öffentlichkeit ist und wie oft gerade dieser Punkt immer wieder vernachlässigt wird. "Wir wollen die Vereine gerade in diesem Punkt unterstützen und stärken."

Auf die Frage, warum Dennys Sawellion gerade das Turnen so am Herzen liegt, berichtet er aus seiner eigenen Erfahrung: "Mich hat Turnen schon von jeher wegen seiner Vielseitigkeit fasziniert. Ich komme aus einer sehr sportlichen Familie und habe selbst schon früh mit dem Turnen angefangen – die Turnhalle war direkt vor unserer Haustür. Turnen ist eine optimale Kombination aus Geschicklichkeit, Kraft und Ausdauer."

Natürlich ist ihm die Jugendförderung auch wegen seines Berufes als Lehrer besonders wichtig. In vielen Schulen nimmt Turnen immer noch eine sehr untergeordnete Rolle ein. So können Talente natürlich nicht entdeckt und entsprechend gefördert werden. Die Erfahrung zeigt allerdings, wie Sawellion berichtet, dass die Kinder immer mit Feuereifer bei der Sache sind, wenn es an die Geräte geht. Wie bei kaum einer anderen Sportart würden hier zudem Mut und Selbstvertrauen gefördert. Die Kinder müssen sich etwas zutrauen, die Erfolge bestärken sie darin.

Gleichzeitig wird dadurch auch die Fähigkeit, Gefahren besser einzuschätzen bzw. sich nicht zu überschätzen geschult. Es ist unbestritten, dass Kinder, die häufig turnen, selbstbewusster sind und über ein besseres Körpergefühl verfügen, als "Nicht-Turner".

Neben der Jugendförderung sollte auch der ökonomische Faktor nicht vernachlässigt werden. Gießens Attraktivität als Universitätsstadt würde durch ein Leistungszentrum sicherlich gesteigert werden. Gerade in einer Zeit, in der das Gesundheitsbewusstsein steigt, in der mehr Wert auf Ernährung und Fitness gelegt wird, könnte ein solches Zentrum durchaus Sogwirkung besitzen.

Eine Podiumsdiskussion am 22. März 2005 bot jedem Gelegenheit sich noch einmal genau über das geplante Projekt zu informieren. Neben Dennys Sawellion saß u. a. Eberhardt Gienger, ehemals Reckweltmeister und Vizepräsident Spitzensport des DTB, auf dem Podium im Hörsaal des Sportinstituts (der Termin lag nach Redaktionsschluss).

Katrin Woitenas



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