Express Online: Thema der Woche | 17. März 2005

Vinylkultur

Revival der Schallplatte? Im Grunde war sie nie weg. Dort, wo Vinyl zu haben ist, fragten wir nach dessen Besonderheit. In Marburg und in Gießen

Vor zwei Generationen war die Schlagersängerin ("Mein Freund, der Baum, ist tot") wirklich populär. Nun lächelt sie aus ihrer 60er-Jahre-Frisur heraus der Kundschaft bei Betreten des Ladens vom Plattencover entgegen. "Oh, ihr habt sogar Alexandra." Die Platte stehe da mehr als Scherz, man führe nur elektronische Musik, entgegnet Steffen Altmeyer, der bei Pentatonik Schallwaren in Gießen arbeitet. Obwohl: "Es ist eben auch Vinyl", was im CD-Zeitalter offenbar die Toleranzgrenzen über die Fronten der Musikstile hinausschiebt.

Vinyl? Was hat es damit denn nun auf sich? Wie kam es zum Revival der LP (Langspielplatte)? "Die war doch nie weg", pulverisiert Steffen sogleich die Frage. "Natürlich hat die major industry, Labels wie Sony oder Polydor, die Platte eine Zeit lang extrem zurückgedrängt. Aber die kleinen Independent Labels haben ja nie aufgehört, Platten zu produzieren." Und irgendwann habe es dann sogar wieder "Sachen" wie Jennifer Lopez auf Platte gegeben.

Ich denke CD, MP3, Internet sind ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. CDs klingen kalt und digital, Platten klingen warm, weich, analog." So umschreibt Steffen die Pole. Und in seiner Eigenschaft als kundiger Musikjournalist kann er gleich noch historisch herleiten, dass der Fortbestand der Plattenkultur offenbar mit der DJ-Kultur, wie sie sich in den USA herausbildete, eng verzahnt ist: "Farbige DJs in Detroit und Chicago haben sich einen zweiten Plattenspieler dazugestellt und den Sound von Kraftwerk über ihren Funk und Soul gelegt."

Ohne Platten ist dieser Mix schwerlich zu produzieren. Und heute braucht man sie in der House- bzw. Techhouse-Szene, dem musikalischen Dreh- und Angelpunkt von Pentatonik Schallwaren, was früher Downtown Records hieß. Der neue Name ist für Inhaber Bodo Richter auch mit einem Aufbruch in anderer Hinsicht verbunden: Man will unter der Regie von Mike Kopriva ein kleines Label gründen, damit Bands aus der Region Platten aufnehmen können.

Ein eher breites Spektrum bietet die Plattenauswahl in der Scheibe, Am Grün in Marburg, wo Vinyl und CDs in friedlicher Koexistenz leben. "Einen Schwerpunkt haben wir beim Alternativ-Rock", erklärt Inhaber Matthias Protzen. Und warum stehen hier so viele Platten? Anfang der 90er Jahre konnte der Laie ja den Eindruck bekommen, dass es bald gar keine mehr geben würde.

Damals gab es einen großen Medien-Hype um die CD. Die Industrie wollte ihre Geräte verkaufen und die Musik, die die Leute schon auf Platten gesammelt hatten, noch einmal auf CD", blickt Karl-Heinz-Koch zurück, der in der Scheibe für diffizile Kundenwünsche zuständig ist. "Manche fühlen sich heute veräppelt: Erst haben sie ihre riesige Plattensammlung verkauft und auf CD umgestellt. Heute gibt es vieles wieder auf Vinyl und es werden auch wieder mehr Plattenspieler angeboten."

Von der LP zur CD und wieder zurück zur LP. Insofern also doch eine Art "Comeback" des Vinyl. So war es auch bei Karl-Heinz, der seine 8.000 Platten bis auf 20 Stück verkaufte, sich auf CDs verlegte und seit etwa sieben Jahren wieder Platten kauft. "Die Medien klingen verschieden. Für mich persönlich ist die Platte das lebendigere, humanere Medium. Auch das Artwork auf den Plattencovern der 50er und 60er Jahre ist faszinierend. "Und nicht zu vergessen", schwärmt er mittlerweile vor dem Plattenteller stehend, "das sinnliche Erleben: Wie das greifbare System aus Tonarm und Vinyl den Klang hervorlockt."

Aber was ist in ein paar Jahrzehnten, wenn die Konsumenten, die noch nicht mit der CD aufgewachsen sind, in der Minderheit sind. "Erstaunlicher Weise", wiegelt Mit-Inhaberin Edda Barth ab, "kommen viele 14- bis 20-Jährige in den Laden und fragen ob es dies oder jenes auch auf Platte gibt."

Aber auch Vinyl ist nicht gleich Vinyl, wie Matthias aufklärt, während er eine "Edelpressung" hervorholt: "Die wiegt 180 Gramm, normale haben 120. Die schwereren – sogenanntes "heavy vinyl" – sind nicht aus alten Platten recycelt und verziehen sich nicht so leicht."

Von Marburg zurück nach Gießen. Nur einen Steinwurf von Pentatonik entfernt, befindet sich ebenfalls in der Bleichstraße Music attac. Dort kann man aus dem Mund von Inhaber Stefan "Danni" Dannowski Worte hören, die inmitten von Buddy-Holly-, Cliff-Richard- oder Udo-Lindenberg-LPs nicht zu erwarten waren: "Ich war froh als die CD kam. Mich hat es früher total genervt, dass die Platte nach fünf Mal hören schon geknackst hat." Beim Kauf habe Danni schon den Verfall vor Augen gehabt. "Es ist doch auch ein schönes Gefühl, sich einfach mit der Fernbedienung verschiedene Tracks herausgreifen zu können." Umgekehrt heißt das aber auch: "Platten höre ich viel bewusster von vorn bis hinten durch." Aber Danni ist kein Hardcore-Audiophiler und würde keine Pauschalaussage fällen wollen, was besser klingt. Aber er weiß "die Wärme und den Wohlfühlcharakter" des Vinyls zu schätzen.

Geht man vom Gießern Music attac, an Pentatonik vorbei, Richtung Ludwigstraße und biegt in selbige links ab, landet man alsbald beim Spezialgeschäft Oldie, dem ältesten Second-Hand-Plattenladen Hessens. Im September 1984 gegründet, werden hier "antiquarische Schallplatten" angekauft und verkauft. Wer im Oldie stöbern will, der sollte ein wenig Zeit mitbringen.

Music attac gibt es auch in Marburg. Im Laden am Steinweg treffen wir abschließend Geschäftsführer Manfred "Manni" Trojan, der das Verdienst, die Platte gerettet zu haben, vor allem den "HipHopern und Technos" zugesteht. "Sehr wichtig sind auch die Jazzer. Die haben der Schallplatte immer die Treue gehalten. Im Jazz-Bereich gibt es auch viele gute 180-Gramm-Pressungen." Der Unterschied zur CD besteht für Manni auch darin, dass das Auflegen einer LP regelrecht zelebriert werden könne. "Und dazu wird noch 'ne Flasche Wein aufgemacht."

Der Zugang zu dem Medium habe sich auch geändert, ergänzt Kollege Fabian Schröter: "Wer trotz CDs, die nur die Hälfte wiegen und bei denen man nicht die Seite wechseln muss, Platten benutzt, geht auch viel vorsichtiger mit denen um." Dennoch beschleicht ihn manchmal Sorge, wenn er an die Zukunft der Vinylkultur denkt: "Manche jungen Plattenkonsumenten agieren auch aus einer Art Anti-Haltung heraus. Ich weiß nicht, ob das nicht irgendwann vorbei sein könnte." Aber Manni wiegelt ab: "Im Moment sieht es gut aus. Auch die Künstler machen Druck und wollen Platten machen. Und was uns betrifft: Wir haben immer beim Händler nachgefragt und bestellen bei neuen Veröffentlichungen, wenn möglich, Vinyl gleich mit."

Daniel Hajdarovic

Express Online: Thema der Woche | 17. März 2005

Wettergedächtnis

Extreme Wetterereignisse wie Hochwasser oder Dürre treten gern in kurzen Abständen auf. So das Ergebnis einer Studie von Physikern aus Gießen und Israel.

Die Redensart "Ein Unglück kommt selten allein" hat für den Gießener Physikprofessor Armin Bunde aufs Wetter bezogen durchaus ihre Berechtigung. Denn bei der Auswertung von über Jahrhunderten aufgezeichneten Wetterdaten hat eine Arbeitsgruppe von Bunde und seinem israelischen Kollegen Shlomo Havlin eine Gesetzmäßigkeit entdeckt, die für starke Hitze oder Kälte genauso wie für große Hochwasser oder Dürren gilt. "Diese Extremwerte haben die Tendenz, in kurzer Abfolge hintereinander aufzutreten", berichtet Bunde. So trat nach einem großen Hochwasser 1655 in Nürnberg dort auch in den Folgejahren wiederholt die Pegnitz ungewöhnlich stark über die Ufer.

Hintergrund ist laut Bunde, dass Wetterdaten wie die Temperatur auch über einen langen Zeitraum in Wechselwirkung miteinander stehen. Das bedeute etwa: Ähnlich wie in der alten Bauernregel "Das Wetter von heute wird etwa so sein, wie das Wetter von Morgen", ändere sich das Klima statistisch betrachtet nur langsam. "Das Wetter hat ein langes Gedächtnis. Wenn ein Jahr oder Jahrzehnt besonders warm ist, wird auch das nächste Jahr oder Jahrzehnt warm sein – häufiger als der Zufall erwarten lässt", sagt Bunde. Der "Memory-Effekt" schwäche sich erst über einen längeren Zeitraum ab. Diese Beständigkeit des Wetters hatte die Arbeitsgruppe des theoretischen Physikers bereits 1998 entdeckt.

Bei extremen Wetterereignissen gibt es nach den neuen Erkenntnissen ebenfalls eine Wechselwirkung. So lässt sich am Beispiel der über 663 Jahre aufgezeichneten Nilüberschwemmungen laut Bunde zeigen, dass extreme Hochwasser auch nicht zufüllig über die Jahre verteilt, sondern gehäuft auftreten.

Und gerade weil die extremen Wetterereignisse stärker gehäuft auftreten, als gedacht, seien dazwischen allerdings auch lange Perioden ohne Extreme zu erwarten. "Wenn etwa zwischen den beiden letzten Hochwassern 30 Jahre gelegen haben, dann sagt einem die Intuition nach Ablauf von weiteren 30 Jahren, dass nun eigentlich ein weiteres Hochwasser fällig sei", so Bunde. Diese Intuition führe aber in die Irre. "Unsere Erkenntnissen sagen, es ist umgekehrt. Danach wird ein weiteres Hochwasser umso unwahrscheinlicher, je länger es ausgeblieben ist."

So fällt auch die jüngste Anhäufung extremer Hochwasser in Europa nach Bundes Einschätzung nicht aus dem Rahmen. "Das ist nicht zwingend eine Folgeerscheinungen der globalen Erwärmung", sagt der Physiker. Die Regelmäßigkeit von extremen Wettersituationen lässt sich nach seinen Angaben mit einer einfachen mathematischen Formel beschreiben. Zurzeit untersucht Bundes Forscherteam, ob die Formel sich auch auf ganz andere Extremsituationen übertragen lässt. Bunde: "Wir glauben, dass es ähnliche Effekte an der Börse gibt."

Georg Kronenberg



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