Express Online: Thema der Woche | 24. Februar 2005

Stubenhocker versus Stadtfreaks

Für die Wahl des Studienortes kommen viele Gründe in Betracht. Höchst unterschiedlich sind die mittelhessischen Studierenden aus Gießen ("Nähe zum Heimatort") und Marburg ("Attraktivität der Stadt") motiviert. Eine Studie der Gießener Geographen informiert u. a. auch über studentische Internetnutzung

Aus dem alten Prachtbau des Institutes für Geographie in Gießen dringen immer mal wieder Studien an das Licht der Öffentlichkeit, die auch für nicht-akademische Kreise lobenswert interessant sind. Lobgibt es umgekehrt auch von dem dort beschäftigten Dr. Ivo Moßig – und zwar über Kollegen: "Die Marburger Geographie ist sehr gut aufgestellt."

Abiturienten, die dies lesen und mit der Idee eines Geographie-Studiums schwanger gehen, werden nun gewiss überlegen, ob sie fachlich nicht bei der gut aufgestellten Marburger Geographie bestens aufgehoben wären. Oder sie gehen nach Gießen, weil Moßig und seine Kollegin Heike Böcher, Diplom-Geographin, so spannende Untersuchungen durchführen wie "Motive für die Studienortwahl und das Internet als Informationsmedium". "Pustekuchen", beweist nun aber just diese Erhebung.

Entscheidend für die Wahl des Studienortes", fassen Moßig und Böcher zusammen, "sind vor allem außerhochschulische Motive", also nicht etwa die Qualität von Forschung und Lehre oder die Existenz bestimmter Forschungsschwerpunkte, die es so nur an bestimmten Unis gibt.

Dreiundsechzig Prozent der Gießener Studierenden schreiben sich an der Justus-Liebig-Universität wegen Heimatnähe ein. Dieses Motiv war mit großem Abstand das wichtigste. In Marburg dagegen ist das in der Befragung meist genannte Motiv die "Attraktivität der Stadt" (Nähe zum Heimatort kam immerhin auf 44,4 Prozent). Und wer würde es nicht verstehen, dass dieser Faktor bei den Gießener Kommilitonen mit 9,9 Prozent wiederum an letzter Stelle rangiert ...

Die Schlussfolgerung der Forscher, dass eine Uni in einer schönen Stadt einen satten Wettbewerbsvorteil hat gegenüber einer solchen in einem unattraktiven Umfeld, scheint zwingend. Aber auch bereits das Vorhandensein eines bevölkerungsstarken Umlandes kann offenbar ausreichen, um die Hörsäle mit Studierenden zu füllen, die sich gern noch von Muttern bekochen lassen wollen oder einfach Schwierigkeiten hätten, ein Studium in der Fremde zu finanzieren. "Die Mobilität ist gesunken", sagt Moßig. Und das verblüfft dann doch ein wenig.

Der Sprengstoff der Ergebnisse dürfte jedoch eher darin liegen, dass die Universität selbst im Motivgeflecht jeweils eine so geringe Rolle spielt. Obwohl doch Hochschulleitungen bei steigender Studi-Zahl so gern darauf hinweisen, dass der Anstieg dem besonderen Angebot ihrer Lehr- und Forschungsanstalt geschuldet sei. Auch wenn sich die Dominanz der "außerhochschulischen Gründe" vielleicht nicht ohne weiteres auf andere Unis in Deutschland übertragen lässt, sei hier doch die These gewagt: Auch grottenschlechte Unis können viele Studierende haben. Wohl auch deshalb "setzt sich zur Beurteilung mehr und mehr der Faktor Absolventenzahl durch" (Moßig).

Es gibt auch kuriose Motive", sagt Moßig, die er so nicht hätte voraussehen können. So war für 17,2 Prozent der Befragten in Gießen und gar für 39 Prozent in Marburg die Größe der Stadt ein Kriterium für die Studienortwahl. Tummeln sich in Marburg womöglich viele Großstädter, die es im Studium eher beschaulich haben wollen? Oder umgekehrt: viele Provinzler, die vor den Metropolen-Unis Angst hätten? Ob so oder so – Studierende zieht es nicht zwangsläufig in die "große" Welt.

Für die Studie wurden 662 Studierende in Gießen und 668 in Marburg befragt – aus den Fächern Germanistik, Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaften, Mathematik und Humanmedizin. Bei der Umfrage ging es auch um das Internet als Informationsquelle. Immerhin 63,3 Prozent der mittelhessischen Studierenden haben das Internet im Zuge ihrer Studienortwahl genutzt. Bei der entsprechenden Erhebung aus dem Jahre 2000 waren es lediglich 19,8 Prozent.

Doch die wenigsten gingen online, um sich fachspezifische, also etwa zu Forschungen oder Publikationen, zu informieren. Es ging vielmehr um Service-Leistungen wie Anmeldeformulare und Vorlesungsverzeichnisse.

Stark zugenommen hat zwischen 2000 und heute natürlich auch die Internet-Nutzung während des Studiums: 93,8 Prozent der Studierenden arbeiten mit diesem Medium.

Dieser rasante Bedeutungsanstieg lässt Böcher und Moßig folgern: "Ein professioneller Einsatz des Internets durch die Hochschulen scheint geboten zu sein." Und es ließe sich hinzusetzen: Vielleicht gelingt es dann ja doch eines Tages über diese Schiene, den Nachwuchs bereits im Vorfeld, also bei der Wahl des Studienortes, für das spezifische Profil einzelner Fächer, für die Wissenschaft zu interessieren.

Die gesamte Studie findet sich im Internet unter www.uni-giessen.de/mossig.

Daniel Hajdarovic


Express Online: Thema der Woche | 24. Februar 2005

Schön und grausam

Noch eine weitere Schiller-Rarität beim Hessischen Landestheater: Turandot feierte vergangenen Samstag eine überzeugende Premiere am Schwanhof

Eine alte persische Sage – sie fand auch Eingang in die Erzählungen aus "1001 Tag" – handelt von der ebenso schönen wie grausamen Prinzessin Turandot, die den Männern, die sich um ihre Hand bewerben, Rätselaufgaben stellt, die aber auch mit fundiertem Kreuzworträtsel-Wissen nicht zu lösen sind. Die falsche Lösung zieht zwangsläufig den Tod der Werber nach sich. Aber es kommt, wie es in einer märchenartigen Konfiguration kommen muss: Irgendwann erscheint der Held, der klug genug ist, die Rätsel zu lösen.

Beim Stichwort Turandot denkt der Bildungsbürger zunächst an die Oper von Giacomo Puccini; musikalisch hochverfeinerten Köpfen kommt auch Ferruccio Busonis Variante in den Sinn. Etwas weniger bekannt ist, dass das Commedia dell'arte-Stück von Carlo Gozzi (1762) nicht nur zu Libretti verarbeitet wurde, sondern auch literarisch nachwirkte: So bei Brecht und Hildesheimer und eben in der Bearbeitung Friedrich Schillers von 1802. Ein selten gespieltes Stück, eine Schiller-Rarität wie schon "Der Parasit", der ebenfalls auf dem Spielplan des Landestheaters steht.

Für den Klassiker ein ungewöhnlicher Stoff: Stehen bei Schiller sonst meist erhabene Charaktere, verstrickt in tragische Konflikte, im Zentrum und bleibt für Humor dabei arg wenig Raum, geht es bei Turandot doch recht burlesk zu. Dafür sorgen schon ungelenk-komische Figuren wie Truffaldin (Peter Meyer) und Brigella (Ronald O. Staples), denen der Ursprung aus der Tradition der Commedia dell'arte noch anzumerken ist. Und sogar Turandot, die schon zehn Männer einen Kopf kürzer hat machen lassen, ist in ihrer panischen Angst vor der Ehe oft eher amüsant als erschreckend. Darstellerin Barbara Schwarz gefällt denn auch gerade in ihren spätpubertären Wutausbrüchen.

Zugleich lässt Schwarz aber auch durchscheinen, dass der Turandotsche Männerhass tiefere Ursache hat. "Er ist ein Mann. Ich hasse ihn. Muss ihn hassen" – eine frühe, vielleicht traumatisierte Radikalfeministin, die jedes Maß verloren hat? Doch die Inszenierung von Thomas Roth – als Gast aus Berlin am Hessischen Landestheater Marburg – ist nicht auf psychologische Ursachenforschung angelegt, sondern hält gekonnt die Pole von Witz und Schrecken in der Schwebe. Paradigmatisch dafür die Szene, in der Turandot, um ihren Willen durchzusetzen, zum Mittel der Folter greift. Leicht assoziiert man die Misshandlung von Gefangenen in Guantanamo oder Abu Graib durch amerikanische Soldaten, fragt sich aber auch, ob man gleichwohl lachen darf.

Der überbordende Narzissmus Turandots wird schließlich (es ist ja ein Märchen) durch einen großherzigen Akt der Liebe überwunden: Prinz Kalaf – ganz wie man sich einen edlen Prinzen vorstellt: Markus Klauk – besteht nicht auf Turandots Hand, obwohl er als erster die Rätsel gelöst hat. Er weiß nämlich, dass ein Herz nicht gezwungen, nur freiwillig geschenkt werden kann. So gibt er ihr seinerseits ein Rätsel auf und begibt sich auf diese Art in Gefahr, weil sein Schicksal nun erneut von ihr abhängig sein soll.

Hervorzuheben aus der geschlossenen Ensemble-Leistung wäre noch Thomas Streibig, der als Turandots Vater zu hoher Form aufläuft.

Aber warum heißt das Stück mit vollem Namen "Turandot, Prinzessin von China"? Vielleicht, weil Schiller noch einen guten Untertitel brauchte oder geographisch nur rudimentär informiert war. Und vor 200 Jahren waren aus Weimarer Sicht China wie Arabien beide extrem exotisch und weit weg vom Schuss. Thomas Roth belässt das Stück jedenfalls in seiner angestammten orientalischen Umgebung. Seine innovative Regiearbeit sei all jenen empfohlen, die auf der Bühne auch Unentschiedenes vertragen, das nicht alle (moralischen) Fragen beantwortet.

Die weiteren Turandot-Aufführungen: 1., 2., 18., 25. und 26. März jeweils um 20 Uhr im Tasch 1.

Daniel Hajdarovic



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