Express Online: Thema der Woche | 10. Februar 2005

"Wie ein leeres Blatt Papier"

Angebote der ALI
Die Arbeitsloseninitiative Gießen e. V., 1986 als gemeinnütziger Verein gegründet, befindet sich in der Walltorstraße 17, im obersten Stockwerk des DGB-Hauses. Das ALI-Café liegt um die Ecke (Zugang über Asterweg). Dort findet jeden Mittwoch von 10 – 12 Uhr das Kulturprojekt "Netz-Werke" statt, in das jederzeit neu eingestiegen werden kann. Ende April soll es einen Projekttag geben, im Juni eine Ausstellung.
Im Café gibt es zudem Montag – Freitag den preiswerten Mittagstisch (11.30 bis 13.30 Uhr). Außerdem bietet die ALI montags von 9 – 12 Uhr die Stellenbörse an. Zu dieser Zeit ist auch das Büro besetzt, Tel. 0641 / 389376. Infos über das Internet: www.ali-giessen.de
Daniel Hajdarovic
Kreativität für's Selbstbewusstsein: Die Arbeitsloseninitiative Gießen (ALI) bietet jeden Mittwoch das Kultur-Projekt "Netz-Werke" an. Bei manchen Gästen des ALI Café sitzt der Frust tief – beispielsweise über Politiker und ihre Nebeneinkünfte

Sie dürfen das nicht zu hoch hängen", relativiert einer der Hobby-Künstler den ästhetischen Anspruch der Bilder, die da an der Wand hängen. Dabei kann es sich durchaus sehen lassen, was da in weniger als zwei Stunden entstanden ist als erstes Ergebnis des neuen Projektes "Netz-Werke": verschlungene, teils farbenprächtige und abstrakt anmutende Gebilde, gemalt mit Pastell- und Ölkreide.

Das sind Wege-Bilder", erklärt die Leiterin Martina Bodenmüller, die für ALI auch die Stellenbörse durchführt. "Der eine der Teilnehmer geht Wege im Raum, die ein anderer malt und danach natürlich umgekehrt. Eine Partnerübung, bei der man sich zusammenschließt und schließlich der eine dem anderen seinen Weg schenkt."

Die künstlerische Zusammenarbeit sozusagen als erste Stufe eines Netzwerkes, das die Arbeitslosen mehr als andere nötig haben – über das sie aber weniger als andere verfügen. Konsequenter Weise soll das Projekt auch das Netz der Netze einschließen: das Internet als Medium der Selbsthilfe und gegenseitigen Unterstützung.

Für die Malstunde zum Auftakt des Projekts drängt sich Bodenmüller neben Wegen und Netzen noch eine andere, symbolische Deutung auf: "Die Ausgangssituation ist wie bei der Arbeitslosigkeit: Man sitzt erst mal wie vor einem leeren Blatt Papier". Und auf diesem entstehen dann immerhin Wege, von denen sich vielleicht mal einer als gangbar erweisen wird.

Vor allem aber wollte Bodenmüller beim ersten Treffen dieses Projekts – jeweils mittwochs zwischen zehn und zwölf Uhr im ALI Café – erst einmal klären, welche Kunstformen denn von den Teilnehmern gewünscht werden, um für die nächsten Sizungen entsprechende Materialien zu besorgen: "Wir werden mit Pappmaché arbeiten, mit Draht und Schnüren. Wir wollen auch Skulpturen aus Holz machen, aber solche, die man nageln oder schrauben kann, weil für richtiges Schnitzen das Werkzeug zu teuer ist." Womit die selbstständige Diplom-Pädagogin und Gestaltungs-Sozialtherapeutin zugleich auf die finanziell nicht gerade rosige Situation der ALI verweist, die sich das Ziel gesetzt hat, bei den ersten Stufen Richtung Wiedereingliederung ins Berufsleben Brücken zu bauen.

Von Hartz IV", so Bodenmüller, "ist auch unser Café betroffen. Vorher gab es hier eine Stelle, die nun weggefallen ist. Das Angebot läuft jetzt in Eigenregie." Und Richard Kunkel, ALI-Vorsitzender, erklärt: "Bislang haben wir vom Programm 'Hilfe für Arbeit' profitiert, aber solche Wiedereingliederungsmaßnahmen gibt es seit Hartz IV nicht mehr." Im Moment würden aber Verhandlungen mit Kostenträgern über neue Angebote und Projekte geführt. "Relevant", sagt Kunkel, "sind da vor allem Kreissozialamt und Agentur für Arbeit." So hoffe man, das bestehende Angebot (siehe Kasten) in einigen Monaten wieder erweitern zu können.

Doch zurück zum Kunst-Projekt, das laut Bodenmüller das Selbstbewusstsein der Teilnehmer, das nach zahlreichen erfolglosen Bewerbungen beschädigt ist, stärken soll: Den pädagogischen Hintersinn der Sache haben die Betroffenen selbst natürlich "durchschaut". "Man muss sich gedanklich mit Dingen beschäftigen, zu denen man auch eine emotionale Verbundenheit hat", meint etwa Reiner Reinhardt. "Die Menschen hier suchen keine Arbeit, sondern überhaupt erstmal wieder eine sinnvolle Beschäftigung". Diese wiederum beugt der "seelischen Stagnation" vor und kann damit eine Grundlage sein, letztlich auch die Chancen auf Arbeit zu verbessern.

Reinhardt ist seit 20 Jahren arbeitslos. "Ich war alleinerziehend und habe meine beiden Kinder großgezogen."

Der Weg ist nicht, sich in sein eigenens kleines Loch zurückzuziehen", betont auch Jürgen Mutschler. "Es geht um Netzwerke. Als Manager zum Beispiel, der sich auf eine Stellenanzeige bewirbt, braucht man ja weniger die Kompetenzen als vielmehr die richtigen Beziehungen."

Mutschler hingegen fehlen mitunter sogar die technischen Voraussetzungen: "Bei vielen Stellen sind Bewerbungen per Mail gewünscht. Ich habe nicht mal mehr einen Telefonanschluss." Und als er auf dem Arbeitsamt auf das Problem aufmerksam machte, habe einer Mal zu ihm gesagt: "Dann gehen Sie ins Internet-Café." Mutschler mailt mitunter von Bekannten oder von der ALI aus.

Improvisierte Löungsstrategien und Frustration liegen bei den Besucherinnen und Besuchern des Café ALI oft nah beieinander. Und vor der Tür sagt noch einer, der nicht mehr viel Hoffnung auf eine Stelle hat, weil er 52 Jahre alt ist: "Gucken Sie sich jetzt mal an, was über die Politiker und ihre Nebeneinkünfte herausgekommen ist. Das sind Lobby-Vertreter. Ich wähle aber einen Politiker nicht, damit er sich für die Interessen der Lobby einsetzt, sondern damit er sich für die Interessen der Wähler einsetzt."

Daniel Hajdarovic


Express Online: Thema der Woche | 10. Februar 2005

TAS schenkt in rauen Zeiten etwas Wärme

Ansprechpartner:
Diakonisches Werk Oberhessen: Gisselberger Straße 35a, 35037 Marburg. Fachberatung Wohnen: Beatrice Vonderscher, Telefon: 06421-948777, Fax: 06421-971050, e-mail: vonderscher@dwo-online.de, Sprechzeiten: Mo, Do u. Fr 8.30 – 12.00 Uhr, Di und Mi 14.00 – 16.00 Uhr. Öffnungszeiten der TAS: Mo – Fr. 1400 – 18.00 Uhr, Sa, So und an Feiertagen 13.00 – 18.00 Uhr.
Natürlich sind sowohl Geld- als auch Sachspenden hier immer willkommen.
Joachim Peukert
Die Marburger Tagesaufenthaltsstätte und das Diakonische Werk in der Gisselberger Straße bieten Hilfe und Information für Menschen, die von Obdachlosigkeit oder sozialen Nöten betroffen sind

Arbeitslosigkeit, Scheidung, Schulden, Gefängnisaufenthalt und andere Schicksalsschläge lassen immer mehr Menschen in den Abgrund driften. "Platte machen" ist für viele die Folge: also ein Leben auf der Straße.

Alleine in Deutschland leben zur Zeit über 400000 Menschen von der Suppenküche. Peter, ein Marburger Bürger, ist seit sieben Jahren arbeitslos und besucht täglich die Tagesaufenthaltsstätte, auch TAS genannt, in der Gisselberger Straße.

Hier bekommt er eine warme Mahlzeit und pflegt seine sozialen Kontakte. Monatlich bleiben ihm 150 Euro zum Leben übrig. Das Schicksal nahm seinen Lauf, als er ein halbes Jahr vor Beendigung seiner Ausbildung zum Garten- und Landschaftsgärtner seine Lehre abbrach. Probleme mit den Eltern sowie die Trennung von seiner Lebenspartnerin gaben ihm den Rest.

Peter ist heute einer von vielen Menschen, die auf öffentliche Hilfe angewiesen sind. Donnerstags besucht er ab und zu die TAS in der Zeit von 8.00 bis 10.00 Uhr zum Frühstück. Burny und seine neu formierte Fußballtruppe schauten vor ein paar Wochen auch mal vorbei. Sie schliefen unter der Konrad-Adenauer Brücke in ihren Schlafsäcken, da Hunde in der Obdachlosenunterkunft nicht aufgenommen werden können. Mit ein paar Kumpels gründete er eine Obdachlosenfußballmannschaft, die in diesem Jahr schon zwei Freundschaftsspiele in deutschen Städten austragen konnten. Zur Zeit sind sie auf Sponsorensuche für Trikots und Fußballschuhe. Burny lebt schon zwanzig Jahre auf der Straße und hat dort seine Freundin kennengelernt, die er bald heiraten möchte.

In der TAS befindet sich auch die Fachberatungsstelle für Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen des Diakonischen Werkes Oberhessen. Hier finden u.a. überschuldete Familien, junge, nicht studierende Erwachsene zwischen 18 und 21 Jahre und alleinstehende Männer ohne oder mit wenig Erwerbseinkommen ein Beratungsangebot. Während einkommensschwache Familien zur Zeit den schnellsten Zugang zu qualitativ gutem Wohnraum in Marburg über Wohnungsbaugesellschaften verfügen, sieht es bei der Vermittlung der 18- bis 21-Jährigen eher düster aus. Sie kommen häufig aus betreuten Wohnformen und mit dem Wunsch nach kleinen und preiswerten Wohnraum.

Vielfach hat diese Gruppe keine Existenzsicherung oder verlässliche Bindung an eine Familie. Das Team von der Fachberatungsstelle "Wohnen"stellt sich täglich die Frage: Welcher Vermieter ist schon bereit, einem 19-Jährigen Arbeitslosen ohne Bürge eine Wohnung zu vermieten? Nach Ansicht der Wohnungsvermittlerinnen wird das Misstrauen gegen diese Gruppe in den nächsten Jahren noch größer, wenn Arbeitssuchende bis 25 Jahre noch schneller aus finanziellen Bezügen herausfallen können als ältere.

Beatrice Vonderscher und das Team von der Fachberatungsstelle "Wohnen" kritisieren, dass aus Mangel an Alternativen die Endstation für viele junge Erwachsene Wohnungslosenhilfe oder Obdachlosigkeit bedeutet. Viele Beratungsgespräche befassen sich mit Existenzfragen, neben finanziellen Notlagen oder Wohnungssuche sind das z. B. Suchtproblematik und psychische Krankheiten.

Neben der TAS und der Beratungsstelle "Wohnen" befindet sich übrigens auch dasstädtische Übernachtungsheim in der Gisselberger Str. 35. Ab 18.00 Uhr sorgt ein Hausmeister für die Zimmervergabe.

Joachim Peukert



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