Express Online: Editorial | 3. März 2005

Unzeitgemäße Betrachtung

Unzeitgemäß? Quatsch! Schließlich ist es erst letzte Woche geschehen. Unter meinen eigenen Händen. Und eigentlich nicht es, sondern er. Der letzte Schneemann ../2004/2005. Eine Verkettung lästiger Umstände, die hier wenig zur Sache tun, führte auf ein Rasengrundstück, das tief unter einer unschuldigen weißen Decke aus pappigem Altschnee von grüneren Tagen träumte. Eingedenk Ergötzungen aus glückseligen Kindheitstagen, getrieben von einem einschießenden prometheischen Impuls und ohne ein Jota auf die lästigen Umstände zu geben, die mich auf dieses Stückchen Erde führten, beginne ich das Werk.

Hastenichtgesehen, entwickelt sich aus dem mageren, gleichsam zygotenhaften Schneebällchen ein immer umfangreicherer erst Schneeklumpen dann Schneeklotz dann Schneewalz dann Schneewatz von halbmannhaftem Format. Und verspricht, ein standhaftes Fundament zu bilden. Also jetzt den Oberkörper. Hastenichtgesehen ... undsoweiter ... von drittelmannhaftem Format. Und dem Gewicht der Miss Seekuh 1848. Infolgedessen nicht ohne Flaschenzug zu heben. Will also das Schicksal, dass hier ein Schneemann-Pärchen entsteht. Ist mir recht.

Beseelt vom kreativen Furor entwinden meine mittlerweile recht fühllosen Hände dem klebrigen Belag dieses namenlosen Rasengrundstücks zwei weitere Gebilde – listig genug diesmal von handhabbaren Dimensionen. Heilige Schaffenswut vervielfältigt meine Kräfte, und schon krachen beide Massen auf ihre Rümpfe. Mit wilden Blick sehe ich mich um. Verdammt! Nicht mehr genug Schnee für die Köpfe da. Außerdem wird's gleich dunkel. Also flugs ein paar Eierbrikett in die gesichtslose Weiße gedroschen, Tannenzapfen dazu & Mützchen drauf – voilà! Darf ich vorstellen: Herr und Frau Elefantenmensch! Geschüttelt von fiebrigem Gekicher taumele ich in die tauende Februarnacht. Bäume jaulen, Krähen kreischen, irgendwo winselt eine Straßenlaterne um ihr dünnes Leben. ----

Michael Arlt



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