Express Online: Editorial | 23. Dezember 2004

Besinnung(slos)

Erst wenn das letzte Geschenk gekauft (und verpackt), die letzte Weihnachtsfeier in Betrieb oder Verein überstanden, erst wenn jenes, was unbedingt noch im alten Jahr zu erledigen war, erledigt ist – erst dann bricht die allumfassende Zeit der Besinnung über uns herein. So heißt es. So wird es mancher wohl auch wirklich empfinden.

Es sei jedoch die Frage erlaubt, ob der Zustand, der als Besinnung verkauft wird, nicht mitunter durch den Begriff der Erschöpfung zutreffender umschrieben wäre. Aus der Kombination von hohen Erwartungen an die Weihnachtstage einerseits und zeitlicher Nähe des Festes zum Jahresende andererseits resultiert ein Stresspegel, der – als Kontrasterlebnis – bereits das dreiminütige Anstarren des Weihnachtsbaumes von der Sofaecke aus als stille Einkehr an Heiligabend erscheinen lässt.

Das Phänomen wurde oft beschrieben, aber da die sattsam bekannte Analyse für die Adventszeit stets folgenlos blieb (außer bei vereinzelten, gesellschaftlich ausgestoßenen Weihnachtsdissidenten), sei hier ein anderer Weg vorgeschlagen: Unterm Jahr Phasen der Besinnung einstreuen und damit Kräfte sammeln für die Adventszeit. Denn eine Gesellschaft, die – gegen die Faktenlage – einmal im Jahr Besinnung verordnet, muss wohl insgesamt ziemlich besinnungslos sein. Daher wünschen wir unseren Leserinnen und Lesern nicht einfach nur schöne Feiertage, sondern schon jetzt ein möglichst besinnliches Frühjahr und einen ebensolchen Sommer 2005.

Daniel Hajdarovic



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